Anhörung Auswärtiger Ausschuss Bundestag: Bilanz der Lage in Afghanistan April 2014 und Nachlese

Die Einschätzungen gingen tatsächlich sehr weit auseinander. Im Nachhinein ärgert man sich, nicht noch deutlicher gegen die zum Teil menschenverachtenden, Afghanistan zur Karikatur verzerrenden Allgemeinplätze angegangen zu sein….

–> http://dbtg.tv/cvid/3270612

Stellungnahme von JK zur Diskussion nach der Anhörung (mit eingearbeiteten Verbesserungen von Thomas Ruttig):

Sehr geehrter Herr Dr. Röttgen,

 ich möchte mich auf diesem Wege noch einmal für die Einladung des Auswärtigen Ausschusses bedanken. Thomas Ruttig und ich hatten nach der Veranstaltung darauf hingewiesen, dass eine weitreichende Aussage mehrfach in den Raum gestellt wurde, die so schlicht falsch und irreführend ist: Ausländische Truppen werden nicht aufgrund eines allgemeinen islamisch-religiösen Dogmas abgelehnt, das die Anwesenheit „ungläubiger Truppen“ in islamisch geprägten Ländern verbietet. Konsens gibt es in dieser Frage nicht einmal mit Blick auf Saudi Arabien. Entscheidend ist, ob solche Truppen die islamische Gesellschaft gefährden oder schützen und wie sie sich dort verhalten. Und dies wird in Afghanistan kontrovers diskutiert; es gibt durchaus auch die Ansicht, dass die Befriedung und Entwicklung, die die Intervention Teilen des Landes gebracht hat, sehr viel besser als ein innerafghanischer Bürgerkrieg für den Islam sei. Eine religiöse Autorität in Mazar, mit der ich regelmäßig über diese Themen spreche, ist z.B. ausdrücklich der Ansicht, dass die Vereinten Nationen die Pflicht hätten, das Land zu befrieden und sagt, er könne leicht auf der Grundlage des Islams begründen, warum eine temporäre Fremdherrschaft mit Kräften auch nicht-musischen Ländern notwendig und richtig sei. Dies ist in dieser Deutlichkeit sicherlich eine Minderheitenmeinung; die Meinung, dass gegen nicht-muslimische fremde Truppen aber prinzipiell Jihad geführt werden muss, ist ebenso eine Minderheitsmeinung. ‘Internationalistische’ jihadistische Ideen haben sogar bei den afghanischen Taliban keine Mehrheit, die eine afghanische Agenda verfolgen und niemals außerhalb Afghanistan (und Teilen Pakistans) aktiv geworden sind.

 Entscheidend ist aber doch, dass noch 2007 80% der von uns im Norden befragten Afghanen der Ansicht waren, dass die fremden Truppen sich positiv auf die lokale Sicherheit ausgewirkt hätten und noch 2012 fast 40% sagten, die Truppen sollen noch bleiben weil die eigenen Kräfte noch nicht stark genug seien, um Bürgerkrieg oder Talibanherrschaft zu verhindern. (Ähnliches hört man in anderen Landesteilen, und zwar vorwiegend von gebildeten und demokratisch gesonnenen Afghanen, ohne das darüber Umfragen vorliegen.) Diese Meinung wird vertreten trotz der eingebrochenen Sicherheitszuschreibung zugunsten ISAF und trotz der stark angestiegenen Wahrnehmung, dass fremde Truppen und auch fremde Entwicklungsorganisationen lokale Werte und islamische Normen gefährden. […]

[…] Wir haben 2012 in den Dörfern, in denen die Umfragen alle zwei Jahre durchgeführt werden, jeweils drei Dorfvertreter in Form von Leitfadeninterviews zu einer Bandbreite von Themen befragt, die auch in den Umfragen angesprochen werden (jeweils einen Vertreter der alten Elite, also Mullah, Dorfschulze oder Jihadi-Kommandeur, einen Vertreter der neuen Dorfräte und einen Vertreter der Dorfintelligenz, also z.B. Lehrer oder Apotheker). Nur eine relativ kleine Zahl hat grundsätzliche Ablehnung aus religiösen Gründen gegenüber den ausländischen Truppen signalisiert. Wichtiger war das gestiegene Misstrauen in die Redlichkeit der westlichen Welt Muslimen gegenüber (Koranverbrennung, Mohammed-Film wurden oft genannt), das Unvermögen des Militärs, sich in einem Jahrzehnt gegenüber den Taliban durchzusetzen (diese Aussage ist oft gemischt mit Verschwörungstheorien dahingehend, dass die Amerikaner kein Interesse an einer Befriedung hätten und die Taliban heimlich unterstützen würden) und in den Gebieten, die betroffen waren, konkrete Fälle in denn das Militär Mullahs, Koranschulen, Moscheen angegriffen oder Frauen in Mitleidenschaft gezogen und damit die Integrität des Haushaltes beschädig hat.

 Da Herr Scholl-Latour in Teilen der Öffentlichkeit als Fachmann und Autorität zu islamisch geprägten Gesellschaften wahrgenommen wird, hätten wir schon während der Anhörung gegen diese holzschnittartig verkürzte Darstellung afghanischer Gesellschaft stärker gegenhalten sollen. Zu den Klischees der 16-jährigen Afghanen, die alle geborene Kämpfer seien oder der ethnischen Gruppen, die sich wieder massakrieren werden, ohne dass man darauf einen Einfluss haben könnte und sollte, möchten wir uns hier nicht weiter äußern. Das alles wird der aktuellen Situation in Afghanistan und den Chancen wie Risiken für ein bleibendes deutsches Engagement aber sicherlich nicht gerecht. Dies war der Hintergrund für die Diskussion, die nach der Anhörung entstanden ist.

 Mit freundlichen Grüßen und besten Wünschen,

 Jan Koehler

 

Ein Artikel, den PSL auf seinem Blog mit dem ehrlichen Titel “Mit der Zeit erwirbt man Instinkt” gepostet hat:

http://www.n-tv.de/politik/Scholl-Latour-quaelt-Afghanistan-Experten-article12588291.html

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