Petersburg, 10.02.1992: Melancholie

Wenn ich in einer so verzagenden Melancholie gefangen bin, wie es jetzt ist, erscheint es mir immer so, als seien alle Wege schon gegangen, als gebe es da keinen Raum mehr, meinen Eigenen zu finden, als müsse auch ich den Riesen hinterherstolpern in dem hoffnungslosen Versuch diese nachzuahmen. Und als bliebe auch mir nur die Lebenslüge, um mich nicht ständig als Versager zu fühlen. Denn auf eine wirklich religiöse Demütigung meiner eitlen Ansprüche, kann ich wohl kaum hoffen.

Ich habe, entgegen allem Anschein, ein sehr brüchiges Selbstvertrauen, gerade durch mein omnipräsentes Selbstbewusstsein. Wäre ich doch nur ein Stück von dem, das ich andere Leute glauben mache zu sein!

Vielleicht sind es aber auch diese Leute, die mir ohne mein handelndes Zutun die eitlen Flausen in den Kopf gesetzt haben, so daß ich jetzt den hochmütigen Bildern hinterherjage, die sie mir im Aussprechen ihrer Wunschsichten erzeugt haben.

Ich verstehe nur sehr wenig, warum ich so oft mehr verheißen habe zu sein, als ich mir jetzt selber bin. Mit der sonst so gefürchteten Geringschätzung hatte ich in der Vergangenheit viel weniger zu kämpfen.

Und ich kann einfach keinen ausgetretenen Pfad hinterherschlingern. Ich bin nicht bereit erst Dreck zu schlucken um dann irgendwann einmal Dreck produzieren zu können, den andere schlucken müssen. Oder mir die Lippen an staubigen Statuen wundzuküssen, um meine kleine Statur dann irgendwann mir in diese morbide Walhalla der abendländischen Wissenschaften zu stellen. Mich fortwährend von anderen beurteilen zu lassen. Ich will entweder Großes schaffen oder Garnichts. Da mir aber kein Talent beschieden ist, drängt sich Letzteres als wahrscheinlichere Zukunftsperspektive auf.

Die Alternative wäre es, einen “Weg mit Herz” zu finden, aber wie es scheint, ist mein Kopf viel zu voll mit schweren Bildern, als daß mein Herz ihn zu bewegen vermochte.

Es steht durchaus noch nicht geschrieben, daß ich mit dreißig Katrin nicht heiraten werden muß… . Wenn ich die Augen schließe, sehe ich, so sehr ich mich auch anstrenge, schwarze Fläche (beim Orgasmus manchmal durchsetzt von bemerkenswerten Hell-Dunkel Effekten). Ich sehe die Schrift an der Wand noch nicht einmal, geschweige denn, daß ich sie lesen könnte.

Das Selbstbewußtsein als sterbliches Einzelwesen kam wohl sehr früh auf mich darnieder. Der Unglaube in die Fähigkeit anderer Menschen, einen nachamungswerten Weg zu gehen, resultierte nicht zuletzt auch aus der Niedrigkeit und Hilflosigkeit, mit der mich die Eltern immer wieder konfrontierten, indem sie ihr Zusammenleben nicht auf eine harmonische, kraftspendende eher als aufreibende Weise zu gestalten vermochten. Außerdem die Abgründe in Wort und Tat, mit denen sie mich immer wieder konfrontierten.

Bernd und Jens kommen mit dieser ja geteilten Geschichte anders klar; ihnen war wohl nie die eitlen Ansprüche durch Träume von Größe zu eigen.

 

Ein sehr beliebtes Spiel der russ. Intelligenzija und denen, die sich dazu zählen, ist im Moment “Erbarmen, der Kulturlose Westen kommt!”. Initiatoren dieses Spiels sind vor allem Pan-Slawismus und Orthodoxie. Auch meine Lehrerin will in der Philharmonie jetzt schon nicht mehr die Athmosphäre von früher spüren. Nostalgie auf ganzer Ebene.

Ich war auch immer geneigt, die kulturellen Eigenheiten des russischen Folkes auf den Wohlstandsmüllhalden des Westens zugrunde gehen. Bis mich Jurij Benz’anovitsch darauf hinwies, daß Kultur niemals ein statischer Zustand sei, sondern immer ein Konkurrieren verschiedener Ideen, Lebensformen, Werten usw.. Wenn also ein Interesse an profunden Auseinandersetzungen mit den großen Fragen des Lebens in Literatur und Schauspiel, sowie den Schönen Künsten, der “Russischen Seele” tatsächlich sehr verwandt ist und nicht nur Ersatzbefriedigung für nicht angebotene oberflächliche Genüsse, so wird sich diese Tradition auch erhalten. Wenn nicht, dann braucht man ihr auch nicht wehmütig nachzuheulen.

Klare Absage an “Das Sein formt das Bewußtsein”.

 

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