Petersburg, 11.02.1992: Besuch bei BM; Zweifel; Jazzclub

Heute, nach zwei anstrengenden Tagen grundlegender Selbstzweifel mit Mischa im JAZZ-CLUB gewesen. Gestern Abend suchte ich zum ersten Mal hier Ruhe in ablenkender körperlicher Bewegung und verließ mein App. Richtung Innenstadt. Nachdem ich etwas durch die nächtliche Farbenpracht gestreunt war, vor allem im Himmelblau, Weinrot und Ockergelb der Fassaden gebadet hatte, ging ich doch noch zu B.M.. Sie war der einzige Mensch, dem ich mich in meinem Zustand zeigen konnte, obwohl ich wußte, daß sie mich erkennen würde. So geschah es und wir verbrachten die frühe Nacht damit, unsere Traurigkeit zu teilen, die wir als Selbstzweifel benannten. Ich erzählte zum ersten Mal von mir. Sie sieht in mir schon lange nicht mehr Freier Leichtfuß und vermochte es somit, meiner rasenden Seele Linderung zu verschaffen. Antworten wissen wir beide nicht zu geben, doch berühren wir einander bisweilen in unserem Fragen und finden so einen anderen Menschen in gleichsam ertasteter Finsternis.

Konkret: Sie fand sich bisher nur in der Hingabe zu anderen, hat aber jetzt (durch Worte von mir – initiiert schon im August: Sex moschet bitch krasivij) ihre unmittelbar ichbezogenen Bedürfnisse entdeckt. Diese findet sie erreichbar nur auf ihrer Trauminsel. Da die Brüche zwischen vorstellbarer Welt und realer Welt aber verwirrend schmerzhaft waren, versuchte sie den Weg zurück zu ihrer alten Selbstfindung zu gehen – was ihr natürlich (nach Ixlan) unmöglich war.

Sie fürchtet, daß ich Kraft schöpfe aus dem Leid, daß ich Menschen durch meine Verführung zufüge. Eine entscheidende Frage für sie ist es, ob ich bewußt verführe. Außerdem denkt sie, daß ich Frauen gegenüber zu leichtfertig mit assoziationsschwangeren Bildern umgehe, die ich sprachlich erzeuge. Sascha hingegen glaubt, daß Sprache an sich überhaupt keine Macht hat, Menschen wesentlich zu stimmen (z.B. ihre Wahrnehmung soweit zu manipulieren, daß sie ein bereistes Land nicht mehr ungetrübt von diesen Bildern sehen können). Vielleicht sollte man seinen Standpunkt nicht zu leichtfertig verwerfen – ist es wirklich Sprache in der Hauptsache, mit der ich Macht ausübe? Oder ist Sprache nur die Spitze des Eisberges der die Löcher aber in den unsichtbaren Tiefen reißt?

 

Heute Abend war ich wie gesagt im Jazz-Club. Es ist neben einem in Moskau wohl eine einzigartige Erscheinung. 25R Eintritt und Getränke zu erschwinglichen Preisen in Rubel und Devisen. Das Publikum besteht aus Russen, die Ausländer treffen wollen, informierten Ausländern, die Russen mit Fremdsprachkenntnissen kennen lernen wollen und Jazz-Liebhabern. Auf den Klo sprach mich ein gräßlicher hanseatischer Mode-Rutscharsch auf Englisch an, der mit mir neben der Nationalität nur die Unfähigkeit in Gesellschaft von Anderen pinkeln zu können, gemeinsam hatte. Er wollte wissen, wo er Koks kaufen könne. Ich machte den Fehler und gab mich als Deutscher zu erkennen – hatte ihn somit bis zum rüde werden am Hacken.

Als er gegangen war, beobachtete ich, während mir Mischa bettelnd von seinen Reiseplänen nach Deutschland erzählte, wie zwei mir vordem schon durch ihre penetrante Lautstärke in dem Vorführungsraum, wo ausdrücklich Ruhe erbeten ist, aufgefallene Fettsäcke nach dem Ende der Vorstellung immer wieder den Mischer ranpfiffen. Dieses “ranpfeifen” ist durchaus wörtlich zu verstehen. Das sie selbstredend kein russisch sprachen versuchten sie im trunkenen Geschäftsmannsenglisch diesem älteren Mann ihren Willen klarzumachen, die Band weiter spielen zu sehen – und sei es für harte Währung. Ich hielt sie für Deutsche. Das Bild, das sich bot, paßte so gut ins Klischee, das es grotesk wurde: Der Russe, ein schöner hagerer Mann mit Bart über dem nicht mehr ganz vollständigen Gebiß, ein Ausdruck von Freundlichkeit und Demut in seinem Lächeln, dem ich auf der Stelle geglaubt hätte, die Schrift an der Wand auswendig zu können, wurde von diesen Personifizierungen von Überflüssigkeit mit Pfiffen, Hey!’s und dem “Ich habe die Taschen voller Geld”-Fingerzeichen adressiert. Eine einzige dieser Bewegungen oder Laute, hätte mir gereicht, um diese Feindbilder aus meinem Gesichtskreis zu entfernen; er aber ging zweimal mit seinem tiefsinnigen Lächeln zu ihnen hin, bat um Vergebung kein Englisch sprechen zu können und versuchte zu erklären, wie unmöglich das Anliegen dieser Gäste sei. Ich hielt es nicht mehr aus, als mir klar wurde, daß diese wabernden Spesenficker nicht im entferntesten daran dachten zu gehen, obwohl der Saal sich schon fast gänzlich geleert hatte. Zunächst adressierte ich sie aggressiv auf Deutsch. Als sie mich irritiert ansahen, sprach ich zunächst nur mit dem alten Mann und entschuldigte mich für die wyssokomenie dieser Kreaturen. Er hingegen fand es in seinem Herzen ihr Verhalten sehr viel milder zu interpretieren als ich. Daraufhin sprach ich höflich aber sehr bestimmt mit den Deutschen, die sich als Norweger enttarnten. Sie wollten ihren Wodka mit mir teilen und erzählten mir, wie sie den Jazz-Club in Moskau mit ihrem Geld bis spät in die Nacht hinein am Leben erhalten hätten.

Es gibt wirklich Menschen, die außer ihrem Geld absolut nichts zu geben haben.

Zeit wird hier langsam zu Geld – und das scheint ein sehr schmerzlicher Prozeß zu sein.

 

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