Tbilisi, 6. Dezember 1992: Inesa und Losha treten in mein Leben (Svobodnaya Gruzia)

Über Tengis/Maja eine Ienesa kennengelernt, die als Journalistin bei WTSCHERNY TBILISI arbeitet. Mit ihr und einem weiteren Mitarbeiter namens Ljoscha in der Prämiere des “Kirschgartens” von Tschechow gewesen. Die Aufführung über in ihren verlorenen Paradiesen gefangene verspätete Aristokratie, war sehr schwach. Das Publikum, zu einem großen Teil aus Schülern bestehend, eher selbstdarstellerisch laut und störend (Schmatzgeräusche bei sehr künstlichen Filmküssen … ). Zum Kirschgarten selbst stellte sich mir die Frage, ob die verlorenen Paradiese erst durch ihren Verlust zum Paradies werden, oder tatsächlich der Boden sind, in den sich die Wurzeln des Mensch-seins gegraben haben und aus denen er Identität und Kraft schöpft.

Diese Frage wurde heute wieder aufgeworfen, als wir bei einer armenischen Künstlerin Namens Gajane (Soki, = armenische Jüdin) zu Gast waren. Sie bezeichnet Tbilisi als ihren Atem, ihr Element, aus dem sie alle Schaffenskraft schöpft. Ohne das, könne sie nicht sein, ginge ihr der Tiefgang verloren.

“Brennt Tbilisi, brenne ich mit ihm, geht es unter, gehe ich mit.” Das möglichst genaue Kennenlernen, Erkunden und Erfühlen ihrer direkten Umgebung ist ihr sehr wichtig. Auch wies sie mich darauf hin, als ich einen Weltensammler wie Graham Green vorschlug, daß zum Erleben einer neuen Welt, eine alte erst sterben müsse. Ohne diesen Tod, gäbe es keine Geburt.

Weiter leitete sie das Fehlen von Manifestation schöpferischen Genies von Frauen ab aus deren Unfähigkeit in Einsamkeit zu sein. Sie sagte, daß sie einen Künstler nur ernstnehme, wenn er es vermöge wirklich einsam zu sein. Nur dann kann er schöpferisch tätig sein. Frauen haben Angst vor der Dunkelheit und vermögen es nicht diese zu ertragen. Sie brauchen Menschen und Wärme um sich. Ich schlug meine Theorie vor, nach der Schöpfungsdrang geboren wird aus dem Bewußtsein des Menschen um seine Einsamkeit und seinen Tod. Also aus dem ursächlichen Leid heraus. Und daß Männer nun weitaus einsamer in dieser Welt sind, unfähig Leben zu schenken und dadurch in unmittelbarsten Kontakt zur Umwelt zu treten; also die Qual der Einsamkeit zu vermindern, indem die Egozentrik gedemütigt wird im Bewußtwerden des gleichwertigen umgebenden Seins. Nicht die Einsamkeit selbst können Frauen leichter überwinden als Männer, sondern den Hochmut und die Eitelkeit in Egozentrik, die in der Vereinigung mit dem Bewußtsein der Einsamkeit die Qual erzeugen. Männer hingegen erschaffen mit ihrem entwurzelten, freien Geist Welten, weil sie in der gegebenen keinen Platz, keinen Hort für sich finden, wo sie zur Ruhe kommen könnten, Doch wer kann einsamer sein, als ein sterblicher Gott im Be1mßtsein seiner Sterblichkeit? Der Mann erschafft die Welt neu, er definiert und erklärt, beschreibt und analysiert, selektiert und vernichtet und ist als Schöpfer der entfernteste Bestandteil seiner Welt, weil es nichts gibt, was ihm ebenbürtig wäre,

Kunst im humanistisch, individualistisch abendländischen Verständnis ist in ihrem Kern eine Ausgeburt der Selbstherrlichkeit des Menschen, Überheblichkeit nicht über einen abstrakten Gott, sondern über das Mysterium der Erde, des Seienden, der Natur, der Schöpfung, des Mysteriums in Tod und Geburt, in Ich und Du. Kunst ist die eigentliche Unfähigkeit SEIEN lassen zu können. Frauen sind da begabter, ihr Zugang zum Leben zwischen Geburt und Tod liegt in ihrem Inneren, ihr Element ist das erdige Leben. Kann ein Mensch Leben, so braucht er der Kunst nicht. Er kann sich der Kunst bedienen, sich an ihr erfreuen. aber sie wird nicht den verzweifelten Tiefgang derer haben, die “nicht nicht schreiben können”.

 

Ein junger Mitarbeiter Ljoschas mit brennender Seele beschrieb Georgien als zu 90% aus asiatischer (Un-) Kultur bestehend und nur zu 10% der westlichen Kultur verbunden. Er sagte, daß das westliche (deutsche) Kultur- und Wirtschaftsmodell zwar sicherlich nicht perfekt sei, aber das funktionsfähigste und beste, was der Mensch sich bisher erdacht hätte.

Wie auch schon bei dem Gespräch mit Maja wurde deutlich, wie wenig sich die von westlicher und russischer Vorstellung beeinflußten jungen Menschen mit der georgischen Gegenwartskultur verbunden fühlen. Seit Gamsachurdia, unter dem eine regelrechte Hatz auf den weltoffenen Teil der georgischen Intelligenzija einsetzte, weil diese sich gegen seine abschottende Nationalstaatsparanoia wandte. Finden sie keine Nischen mehr, um sich heimisch zu fühlen.

Bietet eine Kultur den in ihr lebenden Menschen keine Heimat, kein sicheres Selbstverständnis mehr, ändert sie sich ganz automatisch, und diese Veränderung ist dann auch natürlich und nicht wehmütig oder ethnonostalgisch zu beweinen: Die Kultur ist für die Menschen da, Menschen sind die Kultur. Waffenwahn und Männlichkeitskult waren seiner Meinung nach abstoßende asiatische Merkmale.

 

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