Tbilisi, 27. November 1992: Niko, Notärzte und Religion

Gestern Abend war Nico (einzig zu dem ich die Möglichkeit einer herzlichen Verbindung spüre), seine pubertierende Schwester und seine Mutter, gestandene Ärztin mit rauer Seele aus der Sowjetzeit da. Sie arbeitet seit 20 Jahren bei der CKORAJA POMOSCHTSCH. Ich kenne das aus Petersburg, wo die “Balde Hilfe” ihrem Namen auch alle Ehre macht, als Privattaxie durch die nächtlichen Straßen fahrend. Aber die fahren wenigstens noch. Hier gibt es für öffentliche Fahrzeuge, mit Ausnahme der Militärverkehrsmittel, keinen Tropfen Benzin. So staut sich der Müll in den neueren Bauten (wie in dem meinigen) den Müllschlucker hinauf bis in die obersten Stockwerke. Zum Glück ist’s jetzt Winter und da die Häuser nicht beheizt werden, habe ich bisher noch keine Ratten gesehen. Bei den Häusern ohne Rattenkurorte liegt der Müll so drumherum, in den Höfen oder an der Straße. Es stinkt trotzdem nirgends. Es fällt auch auf, daß man hier in Georgien sehr selbstdiszipliniert mit dieser für die Menschen völlig neuen Situation umgeht. Und wenn mal jemand in den auseinanderberstenden Trolleybussen austickt, weil er schon die dritte Station verpaßt hat, sich nicht aus dem Menschenbrei winden könnend, ist es unter Garantie ein Russe. Die Georgier haben nicht so viel gegen öffentlichen Körperkontakt.

Die Notärzte sind angewiesen, zu Notfällen im Umkreis von 2km zu Fuß zu eilen. Meine Annahme, daß die Notfälle außerhalb dieser sportlichen Bannmeile mit dem Auto versorgt werden, wurde mild belächelt. Diese unglücklichen Opfer von Autounfällen, Messerstechrein oder auf der Straße gekauften Käses müssen selbst sehen, wie sie zur Station kommen. Die Mehrzahl der Einsätze betrifft aber die Rücktransporte der Verletzten aus Abchasien. Diese werden mit dem Hubschrauber zum Tbilisier Flughafen geflogen, dort notärztlich versorgt und dann weiter ins Krankenhaus gebracht.

 

Mit Fee sprach ich jetzt öfters, zum einen, weil Awdij nun tatsächlich in die Psychiatrische Klinik Spandau eingeliefert wurde, dort zunächst, als er bei der Forderung sich auszuziehen wild geworden war, auf ein Bett gefesselt wurde, einen Platz bisher nur auf dem Flur hat; zum anderen, weil sich meine Seele in ihrer Fremdheit hier, sehr konkret nach Alexandra sehnt, und ihre Stimme mitunter schon eine beruhigende Wirkung auf mich hat. Ich fürchte mich davor, mich auch einmal einem Menschen so aufzuwuchten wie Awdij. Und im Grunde ist die Quelle unserer Angst die gleiche nicht personengebundene Wahrheit im Menschsein: Einsamkeit und Tod. Ich und woanders, da draußen, Du. Nur gehen wir unterschiedlich damit tun.

Saschas Seele ist noch einsamer als die meine, vielleicht weil sie sensibler ist, vielleicht weil er nie einen anderen Menschen als ebenbürtig erlebt hat, weil er nie geliebt hat. Auch in seinen Gefühlen zu Alexandra, in seinem erklärten Leid für ihn aus meinem permanenten Betrug an ihr, war und ist ihr Wohlsein ihm völlig egal. Mehr noch, es ist sogar nicht erwünscht, denn in seiner Welt soll sie ja unter mir leiden. Das ist vielleicht das Kainsmal der Großinquisitoren, die sich ihre Welt selber erbaut haben und als sterbliche Erschaffer der Welt keinen Zugang mehr haben zu den Wesen in dieser Welt, keine ebenbürtige Beziehung zu ihnen mehr finden können. In Hochmut und Eitelkeit furchtsam und einsam leiden und verhärmen. Und in diesem Kainszeichen unterscheiden sie sich von denen, denen eine Welt geschenkt wurde, eingegeben in ein zum Nehmen bereites demütiges Bewußtsein.

Das, was Sascha so eigentlich unreligiös macht, ist es, daß ihm jegliche Demut abgeht, daß er selbst das angreifbare, eitle Zentrum der Welt ist. Solange ich ihn kannte, wußte er darum. Sein Wille zu leben, seine Fähigkeit zu staunen ist abgenutzter als der Meine – er nannte mich immer eine junge Seele im Gegensatz zu der seinen. Kein Wunder, daß er zusammenbricht.

Jesus und der Großinquisitor: Beide behaupten, die Menschen zu lieben. Und obwohl die Argumentation des Großinquisitors unangreifbar ist, verweilt man in seinem Weltbild (das dem der Mehrzahl der modernen Menschen entspricht), überhaupt: verweilt man in der Annahme, die Welt in Bildern des Verstandes fassen zu können, liebt nur Jesus, weil er dem einzelnen Menschen sein Mysterium nicht raubt, ihm seine Freiheit läßt, neben ihnen leidet, selbst stirbt, selbst Angst hat. Liebe ist die Fähigkeit beieinander zu sein und einander sein zu lassen.

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