Heute viel gelernt:
– Es gibt also auch in Tbilissi Menschen, die sich für Modellagenten halten. Als ich etwas gedankenverloren nach einem Konzert in der Philharmonie, in das ich in der fälschlichen Annahme gestiefelt war, daß dort Mozart und Beethoven auftreten sollten, und das ich, nachdem ein fetter georgischer Roy Black seinen mißlungenden Playback-Auftritt begonnen hatte (er gab sogar bestellten Blumenkindern Küßchen, während seine Stimme vom Band gnadenlos weilerplärrte), durch die sich drängende Schar der Zuspätgekommenen wieder verlassen hafte, in einem Kaffee saß, sprachen mich zwei adrett angezogene Herren in ihren Zwanzigern an. Ich war mit Leder und Shitkickern ramponiert (und deshalb auch schon in der Konzerthalle von Teenies aufs unschönste gehänselt worden), trug außerdem einen neuerlich zurechtgeschnitzten Bart und dachte gerade entsprechend wenig an meine Schönheit. Der Chef der Agentur ohne Office, im hellen Trenchcoat hielt es dann aber doch für richtig, mir Komplimente betreffs meines photogenen Äußeren zu machen. Er hatte seine Hausaufgaben wirklich gemacht und bewies mir später dann nicht nur an mir seinen hinlänglichen Geschmack und scharfen Blick. Außerdem kennt er sich im Modesumpf recht gut (theoretisch) aus und verfolgt sein Ziel mit Ernsthaftigkeit und nerviger Selbsldarstellung (er hat noch nicht ganz die goldene Mitte raus, zwischen Duckbedürfnis vorm güldenen Westmodell und dem “Hey, baby, ich könnt’ Dich ja ‘mal casten” Gequatsche). Seine Familie, bei der er wohnt, ist ganz nett: Der Vater überzeugter Kommunist, der Bruder religiöser Physiker. Lustig war’s, wie der Bruder mir von links andauernd Fragen stellte, wie “Glaubst du an Gott?” und mir Tengis währenddessen ständig irgendwelche bescheuerten Photos von halbnackten Mädchen zeigte, die sich ungebührlich in die Kamera räkelten.
– Nett war auch meine erste Stunde in Sachen Georgisch. Die Lehrerin ist mir sympathisch und meint, daß junge Leute ihr Sexualleben doch vor der Ehe entdecken müßten. Außerdem verschweigt sie es ihrem Gatten seit 20 Jahren, daß sie raucht.
– Weiter, daß nach einer alten georgischen Chronik das Gewand Jesu in Georgien unter die Erde gebracht worden sein: Zwei georgische Juden (die schon seit Babylon eine Kolonie in Georgien haben sollen), auf der Suche nach Jesus, kamen zu spät und fanden ihn schon ans Kreuz geschlagen. Dort würfelten gerade die Soldaten um das Gewand Jesu. Sie kauften es fix und sahen zu, daß sie nach Hause kamen. Dort hörte der (heidnische) Zar von ihnen und lud sie an seinen Hof, näher über die Geschehnisse in Palästina informiert zu werden. Am Hofe des Zaren zog dann irgendeine Schnepfe (ich glaube, die Schwester eines der beiden Juden – und das kann nach georgischer Nomenklatur eine x-beliebige Person sein) das Gewand an und starb auf der Stelle an der großen Liebe, die von ihm (Jesus, respektive dem Gewand) ausging. Der Zar wollte dieses wundersame Kleidungsstück dann an sich nehmen, doch vermochte es keiner aus der festen Umklammerung des Mädchens zu lösen. Ergo wurde sie mitsamt Reliquie beerdigt, denn, wie Sorbas sagt, nach wenigen Tagen verpestet man den Mitmenschen die Umgebung, so daß sie genötigt sind, einen ein paar Meter tiefer zu legen.
Dies geschah im ersten Jhd. nach Christie und begeisterte den Zaren allerdings noch nicht so sehr, dem christlichen Glauben beizutreten. Glück für die Heilige Nino. Die durfte sich dann nämlich auf Geheiß der Mutter Maria zwei Jhd’s später mit einem von selbiger Mutter gestifteten Kreuz aus Weinstock (zusammengebunden allerdings mit den Haaren der Nino und heute noch zu sehen in einer tbilissier Kirche) auf den Weg machen, das Grab der zu Tode geliebten Tuchträgerin, auf dem ein mächtiger Baum wachsen soll, zu suchen. Auch Glück für die Georgier: Auf ihrem Weg vollbrachte die Nino nämlich viele Wunderdinge, zerstörte durch Gebete einen riesigen Götzen in Mzeta, überzeugte so den Zaren von den Vorteilen des Christentums und holte Georgien somit in den Schoß des Orbis Christi.
Ansonsten ist da noch von Nigel zu berichten, einem englischen Physiker, der einer Einladung des Physikalischen Institutes hier gefolgt ist und den ich während meiner dreißigstündigen Warterei auf dem Frankfurter Flughafen kennen gelernt habe. Wir besuchten zusammen Janne, ergingen uns im Jugendstil, unterhielten uns anregend und unterhaltsam über Belangloses und freuen uns unseres Lebens, wenn wir uns sehen. Als strikter Vegetarier hat er großes Glück gerade jetzt in Tbilissi zu sein, da Fleisch tatsächlich Defizit ist.
Jede Zeit an jedem Ort baucht wohl ihren Geist hinein in die Menschen, die diese Zeit als ihre Jugend erleben.
Und dieser Geist scheint in Raum und Zeit immer ein anderer zu sein, auch wenn die Erinnerung an ihn die immer gleiche Schwermut erzeugt. Der sowjet-russische Geist der 80 ‘er Jahre war wohl so ein ganz besonderer. Ich habe heute Photos bei Niko gesehen, aus der Zeit, in der Dato und Inna zusammen studierten. Eine Zeit, in der die Vorzüge dieser Welt Sowjetunion mit ihren Landschaften und Völkern als in Reisefreiheit, der Unabhängigkeit vom Geld, dem Schlüssel der russischen Sprache noch voll ausgeschöpft werden konnte, in der die Nachteile aber scholl anfingen aufzubrechen, Protest möglich wurde, ohne ihn zur Lebensaufgabe selbst zu machen.
Die Menschen auf den Photos waren schön und ausgelassen und voller Hoffnung und Zuversicht. Sie kamen aus den verschiedensten Kulturen und fühlten sich doch zusammengehörig.
All das ist jetzt für immer vorbei – nicht nur weil die Jugend dahin ist – und nimmt Gestalt an in den immer traurigen Augen Innas oder im grimmigen Fluchen Datos. Ich kann sie nur zu gut verstehen. Das 21 ‘te Jhd. wird dem 20’ten nichts schuldig bleiben in Sachen Blut. Ich fürchte, es wird sogar noch völkerfressender als das derzeitige. Man verliert die Lust, sich zu sehr in das Großartige seines Blickfeldes zu verlieben -nur die kleinen Augenblicke versprechen eine gewisse Kontinuität. Ich fürchte den “Vater der Soldaten” und ich spüre ihn näher treten. Wie jung war die Welt noch, als dieses Jahrhundert begann – und wie ist sie gealtert.
Zuerst merkte ich, daß kein Gott bei mir ist – und wollte selbst ein Gott sein. Und nur langsam dämmert es mir, daß ich wie alle die, die ich als Kontraßtmittel in meine Gottdefinition einbaute, mit dem Gesicht im Dreck auf der Erde liege, und mir beim Versuch gewaltsam von ihr hochzukommen, die Gedärme rausgerissen habe. Und trotzdem versuche ich es weiter!
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