HERBSTGESCHICHTE [1990]

Kühl zieht der Herbst am Eckhaus der Großstadt vorüber.

Im dritten Stock sitzt einer und trinkt Whisky nach Kräften. Durch ein paar schlecht verfugte Ritzen krieche ich in sein Zimmer hinein.

Er ist  zu sehr mit sich und dem Whisky beschäftigt, um meinen kühlen Griff um seinen Nacken zu spüren.

Musik spielt laut. Musik der Art, die schwache Mägen in Mega-Bass-Diskotheken umdreht.

Ich sehe mich um. Bücher liegen herum. Bücher von Menschen oder über Menschen, die mich mißverstehend den Winter nicht abwarten konnten.

Jetzt fliegen Lehrbücher herum. Wut steht ihm besser als Verzweiflung. Sie wärt nicht lange. Denn als die Niederschrift der Gedanken eines Linguisten am Fußboden zur Ruhe kommen, bleiben die Augen des jungen Mannes plötzlich auf zwei ehedem aufwendig zurechtgemachten Mädchen haften, denen ich just unter einer sich entblätternden Kastanie inmitten der Piazza heftig durchs Haar fahre.

Da kommt plötzlich fahrt in meinen Jungen: “Heilige Ignoranz! Gehen was aufreißen…, leben für Hormonausschüttungen provoziert durch Männer oder Träume von ihnen.  ‘War er nicht niedlich, der Schnauzbärtige von gestern?’. Östrogene, Kribbeln, Weibchengeruch… und sie gehen hin zu ihm! Machen ‘ne Banklehre, arbeiten als Frisösen, aber sind durch äußere Atribute: Stiefel, MakeUp, feuchtes Zähne zeigen – kleine Erfolgserlebnisse. Verstehen nichts, aber gehen hin zu ihm, liegen an seiner haarigen Brust. Und habens leicht, so leicht!”.

Und er sackt vor, auf den Schreibtisch, erreicht so das Fenster, reißt es auf und schreit heraus: “Und hier oben krepiert einer, weil er sieht” – und sieht im schließen des Fensters den Mann aus dem 7’ten Stock an ihm vorüberhasten, dem Winter entgegen.

Kein kriechen durch Ritzen im 7’ten Stock – das Fenster steht noch offen.