Leningrad, 21.10.1991: BMs Trauminsel

Bella Michajlovna wiedergetroffen. Sie war am Wochenende in einem Ort nahe der finnischen Grenze. Aufschlußreiche Gespräche geführt:

In schriftlicher sowie gesprochener Form teilte sie mir mit, daß alle Sehnsucht nach Erotik und körperlicher Liebe, die ich bei ihr ausgelöst habe, sie sich nur im sicheren Land der Phantasie, auf ihrer Trauminsel, vorstellt.

Diese Idee stellte sich bei ihr in Bulgarien ein, als sie mit ihren Freundinnen an einem schönen Strand lag, der nur für Frauen reserviert war. Sie lagen dort nackt zusammen mit anderen Frauen. In diesem Bild der Schönheit erkannte B.M. die Vergänglichkeit ihres eigenen Fleisches (?). Auch bemerkte sie, daß ihre Art, diese Inkarnation von Schönheit zu betrachten – ohne sie stören zu wollen – eine sehr weibliche war. Sie dachte an die Zeit mit ihrem Mann, in der sie sich immer sehr vor einer Abtreibung fürchtete und deshalb kaum körperliche Liebe erleben konnte. Und sie wollte nicht einsehen, daß jetzt, da sie vor unfreiwilliger Befruchtung (Abtreibung ist hier in Russland wohl wirklich das gängigste Verhütungsmittel, oft auch das einzige, das zur Verfügung steht) keine Angst mehr zu haben brauchte, sie diese Freude nicht mehr erleben dürfe.

Auf die Idee, daß Sex eine Freude sein kann, hätte ich sie im August gebracht, als ich in einem Gespräch beiläufig den Satz fallen ließ “sex can be beautiful” . Da sie sich aber dem Limit ihrer körperlichen Möglichkeiten wohl zu sehr bewußt war, schuf sie sich absichtlich ihre Trauminsel, auf der ich sie in das Mysterium dieses Satzes einführe.

Und nach ihren Aussagen, könne das auch nur auf dieser Insel passieren. Ich glaube ihr.

Sie drückte ihr Bedauern darüber aus, daß Sie mich “wie ein wildes Tier” anfiel, gleich nachdem ich angekommen war, und versteht meine abschottende (Über-)Reaktion.

Meinem ersten Brief, in dem ich Distanz mehr in der Form als im Inhalt fand, hielt sie entgegen, daß wir keine – wie von mir hilflos als Rückzugsphrase eingesetzt – Freunde seien. Das, was wir seien, wäre in ihren Augen ein Wunder und entbehre jedweder Kategorie.

Nichtsdestotrotz schrieb sie in dem dann revidierten Abschlußteil ihres Schriftstücks, daß wir nur weiter “miteinander seien könnten” (habe ich zuvor falsch interpretiert!), wenn ich meine Freiheit (egozentrischen Eigenwillen) nicht an die erste Stelle meines Verhaltens ihr gegenüber stellen würde. Das durchstrich sie aber, mit der Bemerkung, daß sie bei unserem heutigen Treffen (genau: durch meine Pünktlichkeit = Zuverlässigkeit = Respekt) die Überflüssigkeit dieser Bemerkung gesehen hat. Sie möchte von mir nicht mehr als nötig gequält werden.

Was mich vielleicht am meisten an ihr besticht, ist, daß sie bisher alle meine Flucht-Phrasen durchschaut hat, und sie schonungslos sich selbst gegenüber aufgedeckte. Sie ist das absolute Gegenteil von unredlich.

So hat sie meine euphemystische Aussage ja ljublju vsjo, schto ljudi mogut delatch, i patamu schto chotschu slutschatch vam als solche erkannt und erwidert, daß meine „Liebe“ zu all diesen menschlichen Dingen ein vojeuristisches Interesse sei, das die Dinge zum Objekt machen würde, und daß sie dieses Objekt nicht seien will. Ich erwiderte eto bes alternativi. Sie verstand und schluckte.

Es ist schon beängstigend, von einem so von Seele vollen Menschen geliebt zu werden. Vor allem, weil es nur allzu deutlich ist, daß ich diese Beziehung nicht mit meinen Begriffen laufen lassen werde.

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