Piter, 13.04.1992: Moskau, Tod und Underground

In Moskau gewesen und sehr viel Tod getroffen. Der Alte Meister wartete in den verschiedensten Gewändern auf:

– Materielle Umgebung: Stalinistische Wolkenkratzerimimationen, die unheimlich, wie phantastische Schlösser der Dunkelheit aus einem anderen Film aufragen. Es gibt nichts rundes, harmonisches an diesen Wohnphantomen, alles ist spitz, bizarr und dunkel. Daneben steht winzig klein eine himmelblaue Kirche und ein Stück die Moskwa hinab dann sichtbar der Kreml. Weiter dann, links von der Kusnjetzkij Most, einst privilegierte Wohnbezirke, die von den Bulldozern der Stalinarea vergessen jetzt von selbst auseinanderfallen – solange bis sie wegen ihrer zentralen Lage von Firmen und Kapitaleignern gekauft werden.

– Kultur: Einhergehend mit den alten Gebäuden verfallen die sichtbaren Wurzeln der russischen Kultur. Westschrott und Sehnsucht nach idiotischem Luxus überall, die Westimitationen nehmen überhand, bewegt man sich im Zentrum auf der Straße.

– Menschen: (1) Tatjana (Tanja). So scharf wie schön ausgeschnittenes Gesicht. Gebrochene Nase. Geheimnisvoll. Wir sprachen von der unveränderlichen Welt, und sie sagte, daß diese sie mehr ängstigte als das Gewöhnliche. Der Tod ist ein naher Begleiter für sie. Sie erfuhr vor vier Jahren, daß sie Krebs habe; damals war sie 16. Die Ärzte gaben ihr vier Jahre, die jetzt abgelaufen sind. Sie verließ die Krebsstation, um “Mutter” zu werden. Seit einiger Zeit hat sie ein Kind von einer schwer kranken Frau, des ihr Kraft und Sinn gibt. Sie hat drei Selbstmordversuche hinter sich (Erhängen, Pulsadern, Tabletten), hat als Hippie von Rechten die Nase plattgehauen bekommen, ist auf Geheiß der Eltern verheiratet worden, hat ihren Mann verlassen, arbeitet als Uni-Dozentin für russische Literatur des Mittelalters und ist einfach atemberaubend schön. War Marie sehr zugetan, hat vielleicht homophile Neigungen.

(2) Angestochener Chinese im Treppenhaus. Habe niemals solche Schreie gehört. Als ich ins Treppenhaus rauskam, war alles schon wieder still und ich entschied mich für Katzen. Als Wasja dann aber nach einer halben Stunde Blutbefleckt reinkam, bemerkte ich meinen Fehler schnell. Der Chinese lag blutüberströmt im Treppenhaus, ein paar Polizisten um sich, die Witze rissen. Die Mafia hatte ihn nicht wirklich umbringen wollen und nur in die untere Rückenpartie gestochen. Der Polizist, der das ein Stockwerk tiefer liegende Geschäft mit MP bewachte, ließ alles gelassen geschehen.

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