Petersburg, 28.05.1992: Mafia als strukturgebende Gewalt; Mahlers 2. Symphonie

– Sie war von schlechter Ernährung schlank und picklig.

 

Einen in Innas Hotel wohnenden Stefan, Aspirant der Geschichte, kennengelernt. Das Phänomen Mafia am Wickel gehabt:

Mafia allg. ist eine inoffizielle Organisation von Macht, die über ihre Exekutivorgane Gewinn erwirtschaftenden Menschen Schutz vor Schaden garantiert und dafür Geld nimmt. Nun kann man differenzieren zwischen a) Schaden, den die Mafia selbst androht; b) Schaden, der von dritten droht und c) Schaden, der sich aus einer Situation der (ojektiven oder subjektiven) Be­nachteiligung ergibt – vor allem bei Einwanderern. Nationalität und Sprache sind meist die Grenzen des “Wir-Gefühls”.

In Ländern nun, in denen die Handel treibende Gesellschafts­schicht eine übermächtige Kraft geworden ist und folglich eins geworden ist mit dem Staat, garantiert der Staat diesen Schutz ausreichend. Benötigt der Handel die Mafia nicht, scheint es dieser unmöglich zu sein, sich gegen bürgerliche Selbstorganisa­tion durchzusetzen. In diesen Fällen beschränkt sie sich auf illegale Märkte, wie Drogen und Prostitution – denn dort fehlt die bürgerliche Organisation. Zu Ländern dieser Kategorie zählen Deutschland, England, Skandinavien und Holland.

In Ländern, in denen andere Werte als bürgerliche (materielle) eine größere Rolle spielen (wie z.B. Großfamilie, Stammeszu­gehörigkeit, Ehrenkodex, Glauben usw.), die vom bürgerlich organisierten Staat nicht ausreichend erfaßt und geschützt werden, haben Unterorganisatio­nen von Macht eine bessere Chance  sich durchzusetzten.

In Rußland scheint die Mafia momentan die einzige Instanz zu sein, die dem Handel Form gibt. Für den Staat ist das eine Katastrophe, weil ihm die wichtigsten Steuereinnahmen verloren gehen, er dadurch weiter an Finanzmacht einbüßt und immer ab­hängiger wird von den Mitteln der Mafia und des Auslandes. Angesichts dieses Teufelskreises ist eine Erstarkung der Sehn­sucht nach einem nationalistischen Diktator nicht unwahrscheinlich – und findet ja auch statt.

Für Rußland besonders tragisch ist es, daß insbes. die tradi­tionslose russ. Mafia keinerlei Interesse an kulturellen Werten, außgenommen den materiellen, hat. Die Intelligenzija ist tragikomischer Weise mit in das untergehende Schiff derer gedrängt worden, von denen sie die letzten 80 Jahre verfolgt worden sind.

 

Heute Mahlers 2’te Symphonie in der Philharmonie gehört und mich genug begeistern lassen, morgen nochmal hinzugehen. Gülja, die aserbaidschanische Freundin meiner Schwuchteln hatte mich einge­laden.

 

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