Petersburg, 27.06.1992: Kultur & Staat

Mir scheint es wichtig, zu bedenken, daß es neben dem Nationalstaat eine Vielzahl von anderen Organisationsformen von Kulturen gibt. Kulturbewußtsein selbst ergibt sich, sieht man von ideologisch- abstrakten Vorstellungen ab, aus dem Gefühl der Verbundenheit durch Sprache, Volkstum und mit letzterem verbunden, Religion. Außerdem das Interesse, die wirtschaftliche Umwelt gemeinsam so zu gestalten, daß die Kultur erhalten wird und Möglichkeit zur Weiterentwicklung hat. In Kulturen, in denen sich ein bürgerlich-individuelles Selbstbewußtsein herausgebildet hat, ist die wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit des Individuums zum entscheidendem Faktor des Kulturbewußtseins geworden und grenzt dieses eher ein, als Religion, Volkstum und Sprache (Dänemark machte da kürzlich eine ganz erfrischende Ausnahme, aber ansieh ist ein “Vereintes Europa” für diese bürgerlichen Kulturen nur ein konsequenter Schritt). In diesen Kulturen gibt es zwar mitunter einen sehr ausgeprägten Nationalismus, ein Nationalbewußtsein, daß sich aus kulturellem Selbstbewußtsein ableitet, kann es aber nicht geben, weil die Grenzen der Nation nicht einmal mehr annähernd die Grenzen der (Wirtschafts-) Kultur beschreiben. Die Amerikanisierung Europas ist dafür ein leuchtendes Beispiel, die rapide “Westernisierung” in Rußland ein anderes.

Kulturen, die noch stärkere Bindungen zu nicht-materiellen Werten in ihrem Selbstbewußtsein haben (oder hatten) werden, sind sie von keiner strategischen Bedeutung für die Industriekultur, als Land der dritten Welt betrachtet und behandelt. Haben sie strategische Bedeutung, werden sie durch wirtschaftliche, politische und letzten Endes auch militärische Aktionen zwangswesternisiert. Das passierte mit Japan nach dem zweiten Weltkrieg, mit Südafrika in den letzten Jahrzehnten, mit Rußland im Kalten Krieg. Länder wie Georgien, in denen jetzt auch auf Kosten der Minderheiten von einer Kongruenz zwischen nationaler Grenze und kultureller Grenze geträumt wird (Nationalstaat im Sinne Humboldts, wie Paata sagte?), interessieren die Industriekultur nicht in einem handlungsanweisendem Maße. Rußland selbst kann nicht in dem Maße indifferent sein, wie gewünscht, denn die kulturellen Minderheiten, die von diesen Nationalstaatsexpirimenten betroffen sind, wenden sich an den alten Großen Bruder, weil für sie kulturelle Eigenständigkeit in einer Föderation mit einer starken Nation realistischer ist, als nationale Unabhängigkeit.

Mir scheint, vor allem aus pragmatischen Gründen, der Nationalstaat ein veraltetes und unzureichendes Modell für die Selbstorganisation von Kulturen zu sein. Sowohl im Falle der Industriekulturen, sowie bei traditionsverbundenen Kulturen. Föderationen und Konföderationen erscheinen da weitaus nützlicher.

Es scheint in der alten Sowjetunion aller Unkultur und dem Traum vom “Sowjetmensch” zum Trotz tatsächlich viele Nischen gegeben zu haben, in denen sich kulturelle Eigenheiten bewahrt haben. So erzählte Inna z.B. folgende Geschichte, die sie bei den Tschuktschen in der nördlichen Taiga erlebte: Sie war zusammen mit einer tschuktschischen Geologin zwecks Vermessung eines Flußabschnitts tief in die Wildnis vorgedrungen, als diese plötzlich, ganz bei läufig bemerkte, daß sie eben bei einem alten Freund vorbeischauen wolle, um diesem seine Lieblingszigaretten zu bringen. Inna war nicht wenig erstaunt, denn sie befanden sich an die hundert Kilometer entfernt von jeder Siedlung, sagte aber nichts. Nach kurzem Gang weg vom Fluß kamen sie hinaus auf eine kleine Lichtung. Dort legte Innas Begleiterin, ebenfalls ohne jede Prätensionen oder Erklärungen, die Zigaretten auf einen Felsen und ging zum Fluß zurück, an die Arbeit. Später erfuhr Inna dann, daß dort sie Seele eines Verwandten wohne, der schon vor langer Zeit gestorben war. Die Tschuktschen haben zum körperlichen Tod aber ein völlig ungezwungendes Verhältnis und betrachten den “Geist” des Freundes/Verwandten als nicht weniger anwesend, als die körperlichen Manifestationen.

Das Hauptopfer an das Ideal “Sowjetmensch” hat nach Ansicht Tatjanas sowieso das russische Volk gebracht. Obwohl ich erst heftig dagegen anging (alte West-Ignoranz: Sowjetunion=Rußland), waren ihre Argumente ganz einleuchtend.

 

Ansonsten meldete mir Inna ganz wohltuend zurück, daß ich mich in der Gesellschaft anderer nicht anders verhielte, als in eins zu eins Situationen. NOVOSTI. Sie meinte, ich sei der Authentischste.

 

Lisa stellt sich jetzt öfter ein und läßt ihren wirklich schönen Körper von mir abtasten. Sie hat zu früh zu viel an die falschen Leute gegeben und sehnt sich jetzt nach Jungfräulichkeit, die ich ihr in meinem Respekt vor ihr suggeriere. Traurig, sie so verloren zu sehen.

 

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