Woher rührt mein bisweilen zorniger Unwillen gegenüber Saschas Darstellungen von orthodoxer Religiosität?
Spiritualismus, Mystik, Formeln und Regeln, die den Schwachen helfen sollen, ihren alltäglichen Eigendünkel aufzugeben, ihre Selbstsucht zu schmälern, den Weg zu einer religiösen Demütigung zu säubern gibt es in allen mir bekannten Religionen – am raffiniertsten wohl bei C. Castaneda. Da diese Formalismen aber gerade das gewöhnliche (als: gewohnte) Selbstverständnis brechen sollen, ist dieser sichtbarste Teil des Weges natürlich auf die jeweilige Kultur zugeschnitten, die sich einer Religion bedient, denn das Wort ‘Kultur’ beinhaltet ja die erdige, nicht spirituelle Identität (bei Carlos: Tonal). Und ebenso offensichtlich haben sich zumindest in die Massenreligionen auch den jeweiligen Kulturen eigene Selbstverständlichkeiten unhinterfragt eingeschlichen, über Wege des Machtbewußtseins, Opportunität, allg. Säkularisierung der Religion. So sind viele Vorstellungen, Axiome und Regeln des Christentums zugeschnitten auf eine seßhafte, patriarchalische Kultur. Katholizismus akklimatisierte sich noch an das aufkommende städtische Bürgertum, an adlige Machtstrukturen, der Protestantismus hat sich dann versucht ganz auf Bürger und Kleinbürger einzustellen. Im ganzen ist das Christentum in seinen Formalismen von Orthodoxie über Katholizismus zum Protestantismus immer weltlicher und materialistischer geworden.
Es ist naheliegend, daß Orthodoxie daher noch am effektivsten den Eigendünkel infrage stellt, weil sie vom westlichen Massenmaterialismus in der Negierung der bürgerlichen Entwicklungen des Geistes (Renaissance, Aufklärung, Industrialisierung) der letzten Jhd.’e am weitesten entfernt ist. Dafür sind aber der Orthodoxie patriarchalische Vorstellungen vom Menschen, bes. von der Frau, sehr eng verhaftet. Insofern gibt es auch hier viele Inseln eines nicht angetasteten Selbstverständnisses, das als solches weltlich ist, weil es sich aus kulturellen Entwicklungen ableitet und nichts mit spiritueller Erkenntnis zu tun hat.
Aufregen tut mich Sascha nun, weil er diesen kulturellen Aspekt nicht erkennt, weil er nur einen Weg zu Gott sieht, für alle Menschen, unabhängig von ihren Kulturen, weil er den Weg als identisch mit Gott bezeichnet und Gott damit an die Erkenntnis des Menschen kettet, nicht trennt zwischen dem Weg weg von Eigendünkel und materiellem Selbstwertgefühl und dem Weg zu Gott, einem spirituellem Selbstbewußtsein oder besser: Weltbewußtsein.
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