Petersburg, 22.02.1992: Inna auf Dimas Ausstellung kennengelernt

Es passiert jetzt so viel… . Abriß:

– Mit Sascha auf der Ausstellungseröffnung eines mit ihm befreundeten Photographen gewesen. Ein sehr begabter Stimmungsfänger. Hervorragende Nachtaufnahmen von Straßen und Plätzen (mit Menschen). Ödön wäre begeistert gewesen. Menschen sind trotz der Weitwinkeligkeit der Aufnahmen das Zentrum der Bilder. Mit westdeutschen Augen betrachtet (intellektuell-sinnsuchende Augen), kamen einige Bilder ums Klischee nicht herum – so die Röntgenaufnahme von zwei Händen, nach denen ein kleines Kind freudig greift. Der Fotograf hat sehr viel mit Retusche gearbeitet und teilweise mir neue Formen der Kollage gewählt (übereinander liegende Fotos, die durch grobe Ab- und Aufrisse im Deckbild ausgestellt wurden).

Danach sind wir noch zum Feten raus in den spalnij rajon gefahren. Dank seines mehrmonatigen Aufenthaltes in Amerika, war ‘Wilikij’ mit bestem Blues ausgerüstet und so ging die Party ab. Ich lernte tanzend noch eine landschaftsästhetische Erscheinung mit Namen Inia kennen. Da sie ohne Mann zugegen war, wurde sie mit steigendem Alkohol-Pegel auch mehr und mehr offensichtlicher Zielpunkt der männlichen Geilheit (grabschen und fummeln). Da sie ihr Interesse aber ebenso offensichtlich mir schenkte, zog ich die aggressive Ablehnung eines ziemlich besinnungslos betrunkenen Mannes mittleren Alters auf mich. Dieser brachte es dann auch fertig, mir, nachdem ich Inia von seinen auf der Tanzfläche dargebotenen Schwindsuchtsanfällen erlöst hatte, in die Hodenrichtung zu treten. Da das seine Balance-Fähigkeiten aber bei weitem überschritt, entschied ich mich gegens Gehen.

– Inia wiedergetroffen und mit ihr abends nach Puschkin rausgefahren, wo sich gerade eine wunderschöne Winternacht einrichtete: Dicht und leise fallender Schnee, das wohlmeinende Väterchen Frost, ein gelegentlich durchscheinender Mond, die von romantischen Parkanlagen umgebene Sommerresidenz des Zaren, Straßenlaternen in Gassen, die Häuser aus einer anderen Zeit illuminierten.

Als Kontraßstprogramm dazu gingen wir dann ins Kino, weil Inia die Übersetzung des laufenden Filmes vortrug – ein französischer Sex-Film der End-Siebziger. Bei den vielen nicht-synchronisierten Filmen geht das hier nämlich so ab: Der O-Ton läuft etwas leiser als die Stimme des life-Übersetzers mit. Dieser liest monoton einen Text ab, der nur mehr oder weniger mit den Gesprächen im Film einhergeht. Denn der Vortragende spricht in den meisten Fällen die Sprache des Filmes selbst nicht.

Da I. aber einen ausgezeichnet trockenen Sinn für Humor neben ihrer bezaubernden Stimme (gesungen und gesprochen) hat, hatten wir in ihrem Kabuff genügend Spaß.

– Schlimmer war allerdings die Übersetzung des Fassbinder Filmes “Der amerikanische Soldat”. Die Sprache ist nicht nur auf ganzer Ebene entschärft (“ficken”, “halt die Fresse” …) sondern teilweise schlicht mißverstanden übersetzt.

Fassbinder ist hier einer der populärsten Regisseure – die Kinothek war brechend voll, wie schon lange nicht mehr. Auch herrschte die gesamte Vorstellung über andächtige Ruhe. Daß einige Zuschauer den Film dann doch für eine Räuberpistole gehalten haben, wurde deutlich, als nach dem faktischen Ende der Handlung viele Leute zum Gehen aufstanden und damit die zentrale Bedeutung der letztendlichen, endlosen homophilen Nekrophilie, einhergehend mit der immer wieder endenden und neubeginnenden Musik, nicht verstanden.

Ich sah den Film zusammen mit B.M. an ihrem Geburtstag.

– An diesem Abend unterstrich sie auch noch einmal die wesentliche Katalysatorfunktion, die ich in ihrem Leben eingenommen habe, verifizierte ihre Gefühle zu mir und erzählte von ihrem Leid.

Sie will zum ersten Mal sich – und wenn es sein muß auf Kosten anderer. Neben reiferen Empfindungen für mich sitz ihr eingestanden aber immer, wenn wir uns sehen, der Dorn der jugendlich-romantischen Liebe mit körperlichem Verlangen im Fleisch.

In ihrem Reden zu mir, sprengt sie alle hier grassierenden Tabus. Es gibt da nichts, worüber ich nicht mit ihr Rede, weil ich meine Rücksicht nehmen zu müssen. Es gibt wirklich die verrücktesten Inseln der Offenheit, hier in diesem Meer aus verschwiegenem Schutz.

– Die Menschen, die es mir hier am Meisten anturn, sind Frauen um die 60 aus dem Umfeld der Intelligenzija. Es sind Menschen, die ein ähnliches Schicksal gehabt haben: Eine vom Krieg geprägte Kindheit. Sofern sie in Petersburg aufwuchsen, die Blockade, mit der Allgegenwärtigkeit des Todes und den grausamsten Bildern menschlicher Abgründe. Viele sahen als Kleinkinder ihre Familie verhungern, so auch Tamara Ivanovna Ornaskaja. Dann die wahre Ausrottungskampangie Stalins gegen die Intelligenzija, Juden, ehemalige Groß- und Bildungsbürger. Die meisten Familiern wurden um mehr als die Hälfte – viele ganz – liquidiert. Kaum jemand (nur die Kinder) entgingen einer Internierung, die bis zum Tod Stalins die physische Vernichtung bedeutete.

Diese Kinder (vor allem Frauen überlebten) hatten noch einen Eindruck der alten Kultur bekommen und wußten in vielen Fällen von den Verbrechen (viele wohl auch nicht, wie B.M., deren Vater als ehemals hochkarätiger Kommunist in einem Camp umgebracht wurde, deren Mutter aber aus Angst und Hoffnungslosigkeit nichts davon erzählte). Sie erschufen die neue Untergrundkultur, schmissen in einer patriarchalischen Familienstruktur Haushalt und Kinder, arbeiteten in einer kommunistischen Gesellschaft voll mit und waren als eingeweihte Dulder Erben eines erdrückenden Gewissens im Angesicht der Lügen, an deren Gestaltung und Verbreitung sie mitbeteiligt waren  (Lehrer, Wissenschaftler usw.).

Es sind Frauen, die alles gegeben haben und die sich jetzt fragen, wer sie sind.

Meine Bekannte in Moskau nimmt sich da aus, weil sie sich diese Frage in ihrer Kunst schon lange gestellt hat. Ihre vielen Selbstporträts zeugen davon.

– Andruschers Haus wird jetzt jeden Tag eingerissen. Die letzten Male, die ich bei ihm war, kam ich nur noch mit einigen Einbrecher-Stunts zu ihm durch. Daher trug ich die letzten Tage auch immer Taschenlampe, Seil und Knüppel bei mir. Ich bot es ihm an, bei mir zu wohnen, falls sich keine andere Möglichkeit ergeben sollte.

– Inia traf ich vorgestern kurz und wir gingen zu Andruscher. Sie ist immer etwas aufgeregt, wenn wir uns sehen. Sie mag mich.

– Gestern fuhr ich nach Kamorova raus und verbrachte den Tag mit Tamara Ivanova, ihrem Mann und Freunden von ihnen. Sie erinnert mich sehr an die angry young man Literatur. Ich unterhalte mich sehr gerne mit ihr. Sie muß einmal sehr schön gewesen sein. Es gibt Momente, in denen ich sie begehre. Sie strahlt noch einiges an leidenschaftlicher Schönheit aus.

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