23.30, zurück in Petersburg, wird es gerade dunkel. Zurück aus Georgien, das Märchen genug war, mich am ersten Tag dazu zu veranlassen, meine Zukunftspläne radikal zu ändern – besser: Auszurichten.
Auf dem Tbilissier Flughafen angekommen, empfing mich wie immer der gute, alte Reisewind – wo immer ich aus einem Flugzeug stieg, wehte er bisher heftig. Von da an soffen und fraßen wir die gesamten kommenden zehn Tage, als wäre der Körper nicht sterblich. Alles war immer sehr lecker und zu viel. Jeden Tag schwarzen Kaviar.
Die Atmosphäre der Stadt, getragen von südländischer Sonne und vielfältiger Schönheit aufgetragen in Gesichtern unterschiedlichster kultureller Herkunft, tat es mir zur Genüge an, und ich entschied ohne inneren Widerspruch, daß ich ab Oktober Georgisch und Ethnographie in Tbilissi studieren werde. Kaum war mein Vorhaben ausgesprochen, stellten mir die schöne schlanke Msia und ihr netter, fetter runzliger Mann, bei denen Inna und ich wohnten, einen wissenschaftlich verwirrten Ethnographen/Archäologen/Urgeschichte vor, der mir eine Einladung an sein Institut organisieren will.
Außerdem führte er mich in gebrochenem Russisch durch Georgiens hochinteressante Urgeschichte:
Die neolithische Seßhaftwerdung trug sich in dem Gebiet Georgiens sehr früh zu (ca. 6000 v.C.). In der Bronzezeit hatte sich eine hochentwickelte bäuerliche Kultur entwickelt, die Kuro-Aragwinskaja Kultur, die von Georgien bis Palästina reichte. Diese kam offensichtlich in (unfriedlichen?: Feuer) Kontakt mit einer ebenfalls hochentwickelten Kultur. Da diese Kultur viele Zeugnisse hinterlassen hat, die zwingend darauf hinweisen, daß sie zum Häuserbau in der Lage gewesen sind (Kultstätten(?), Monomente), außerdem auch viele Merkmale eines bäuerlich/seßhaften Lebens aufweist, aber keine Häuser hinterlassen hat, interpretiert Paata, daß es sich um “durchreisende” Indogermanen auf ihrer Völkerwanderung ‘gen Westen gehandelt hat. Diese Theorie geht anscheinend einher mit Ivanow Kamkreliuse’s Sprachtheorie in “Protoindoewropeìskij jasìk i indoewropeìz“. Auf jeden Fall veränderte dieser Einfluß die Kuro-Aragwinskaja K. so nachhaltig, daß sie fortan nicht mehr als eigenständig identifiziert werden kann. Im Anschluß hieran und mit der Entdeckung des Eisens als Gebrauchmaterials kam es in Georgien sehr früh zu Städte- und Herrschaftsbildung.
Überhaupt scheinen viele Wurzeln des modernen Menschen im Gebiet von Georgien zu liegen. Der älteste Hominid, der bisher gefunden wurde, stammt aus dem Kaukasus. Ethnisch sind Georgier eine vor-indogermanische Besonderheit zusammen mit Basken und Kelten. Auch haben sie eines der ältesten Schriftsystheme (das Alphabet kann ich schon) entwickelt, das völlig eigenständig ist.
Auch das georgische Christentum ist eines der originalsten: Im vierten Jhd. christianisierte die heilige Anno Georgien mit Hilfe eines aus Weinstöcken gebastelten Kreuzes (was wohl eher auf die abgöttische Weinverehrung der Georgier schließen läßt, als auf tatsächliche historische Begebenheit).
Chronologischer Abriß der Begebenheiten;
– `Kuc`tba (Tscherepachoe Osjero) und ethnographisches Freilichtmuseum mit Führung
– Kunstmuseum (Niko Pirosmanaschwili). Inna bemerkte richtig, daß georgische Kunst eher an Frankreich erinnert, das Leben hingegen eher an Italien.
– Universität: zu viele, zum sterben schöne Menschen. Auf den ersten Blick ist alles ziemlich italienisch, nur schöner und intensiver.
– Ethnographisches Museum mit Führung.
– Zerschossene Innenstadt; wobei mich Paata darauf hinwies, daß die Angreifer (Rebellen) sehr viel schwerere Munition benutzten, als die etablierte Macht. Er hält den Krieg gegen Gamsachurdia für einen Krieg zwischen alter Sovjet-Mafja und neuer nationaler Mafia. Die alte Macht scheint noch viele Stränge zu ziehen.
– Maschinengewehrschüsse jede Nacht (wohl aber in die Luft) und Ausgangssperre ab 23.00.
– Knjas, Karlson, Slonik, Danton, die uns bei Wein, Weib und Gesang die Stadt zeigten. Danton und Knjas haben Anlagen zum Weltbürger.
– Mzeta (alte Hauptstadt) mit Kloster und in der Nähe liegendes Berge`klecia (älteste Kirche, ca. 600) mit Namen Dschwari (Holzkreuz). Großartige Architektur, bes. der Kuppel.
– Für drei Tage die Verköstigung auf dem Lande intensiviert. Atemberaubend schöne Landschaft, ob bei Regen, Sonne oder Nebel. Alles sehr märchenhaft.
– Habe mich entschieden, Panflöte zu lernen.
– Fragt man die Männer, sind Frauen nötiges Beiwerk, sieht man selbst, leiten sie vielleicht mehr als bei uns.
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