Petersburg, 18.06.1992: Casting

Nach einem bemerkenswert CAMARASRUSCHAIJUSCHTSCHICJA DJEN, im Verlaufe dessen ein Türschloß, das Bett, der Computer, die Uhr und die Sonnenbrille in sich zusammenfielen, gestern und heute etwas kreativer überstanden: Gestern dem schwulen Igor Shakespeare ins Deutsche übersetzt und dann auf Band gesprochen, damit die fette Schauspielerin die richtige Intonation hinbekommt; abends dann mit Inna ‘raus nach PETRODWORETZ gefahren und Freunde von ihr da besucht. Er ist Filmregisseur (untere Qualitätsklasse, fürchte ich), sie seine Frau und, wie Inna, Diplomgeographin. Da er gerade einen Schönling für irgendein blödes Melodrama sucht, versucht er mich jetzt zu casten. Daher beförderten wir uns nach einer ausgedehnten Nachtwanderung und heftigem Beischlaf mit der vom Alkohol gehörig verkommenen Inna mit dem Meteor auf das Studiogelände des LEN-FILM’ s. Sieht so aus, als machten die ernst.

Nach Phototest und Freundlichkeiten wartete ich dann am PLOSCHAD MIRA vergebens auf mein DIRA, um Fisch für die weiße Nacht über den Dächern Petersburgs zu erstehen, kaufte folglich Kaviar, verwechselte zum tausendsten Mal POL DWENADZATOWA mit POL WTAROWA und verärgerte die arme Tatjana ernstlich. Außerdem schwitzte ich mich den heißen Sommertag über in Lederhosen, Shit-Kickern,

Offiziersrshinel und -mütze durch die verfluchte Stadt (hatte ich für gestrige Nacht angezogen, in dem Glauben, noch einmal nach Hause zurückzukehren), um das abendliche Treffen materiell zu organisieren.

Außerdem macht mir die aserbaidschanische Hexe Gülija, die meine Freunde hochmütig verachtet, jetzt stetig Avancen.

Der Regisseur schmeißt ohne Unterlaß mit Paraphrasen von seinen deutschen Lieblingsphilosophen ‘rum. Hält sich für übermäßig gebildet.

 

Jetzt sind die Könige der unbeholfenen Selbstdarstellung: Ein verheirateter, erzschwuler Photograph, der Abri Photographie unterrichten will und sich sonst in meiner Anwesenheit kaum einkriegt und Andrej, der mir die ganze Zeit sehr seriös meine Karriere erzählt. War ‘nen Fehler, die Deppen mit auf’s Dach einzuladen. Das Sujet des Filmes ist allerdings von daher ganz interessant, als daß es von einem Dagestaner geschrieben wurde, der in dem Melodrama versucht seine nationalen Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren: Ein (tadschikischer) Naturbursch verliebt sich, als er in seinem von Leninistischer Elektrifizierung erfaßten Heimatdorf eine Schönheitsparade im Fernsehen sieht, in eine Leningrader Schönheit, die mit einem russischen Schönling mit schwacher Seele befreundet ist, überzeugt mit echter Leidenschaft und östlicher Seelentiefe alle Beteiligten von seinen Erbrechten, und nimmt die Schöne mit in seine Berge. Der Schöne (ich) sieht’ s zum guten Ende dann auch ein, und bekennt seine innere Leere.

Schlimm ist es bloß, daß über Stimulation meiner Eitelkeit mein Selbstdarstellungstrieb leicht ausgelöst werden kann – und der mich aufs äußerste belästigt. Gut, daß ich Andruscha heute sehe.

Angesichts der Leidenschaft, die sich auf Innas Seite für mich entwickelt hat, hält Fees Kommen noch einiges Erstaunliches in Reserve. Meine Freude auf Alexandra ist trotz allem ungetrübt.

Tatjana hält Selbstironie für die entscheidendste Fähigkeit des Menschen, um differenziert auf seine Umgebung reagieren zu können. Damit liegt sie wohl richtig. Nur ist es wieder schwierig, zwischen Selbstironie und Leidenschaftslosigkeit zu unterscheiden. Vielleicht setzten wir Leidenschaften aber zu einfach gleich, mit “echten” Gefühlen – und von daher mit Seelentiefe.

Nein, nicht vielleicht, sondern ganz sicher. Und eben deshalb ist der (Tadschike) ein armes Schwein, das über sein fallendes Patriarchat nicht hinweg kommt.

 

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