Petersburg, 18.03.1992: Eisdiele, Männer aus der Sicht der Frauen, Tallin und Riga mit Inna

Gestern ertappte ich mich plötzlich beim Kauf eines Whiskys und mehrerer Tafeln Schokolade im Valutashop. Mit wachsenden Schuldgefühlen quälte ich mich dann durch die Straßen, bis ich mich am späten Nachmittag, nachdem ich die herrliche Frühlingssonne untergegangen hatte, in einem schäbigen Eiscafé wiederfand. Dort setzte sich zu mir und meinem mit finnischer Schokolade gespickten Eis ein Alter mit winzig kleiner Enkelin, der er eine ebenso kleine Eisportion zu spendieren in der Lage gewesen war. Für das Mädchen war dies offensichtlich ein Festtag. Der Alte, dem ein von einsamer Güte in weiche Falten gelegtes Gesicht zueigen war und den ich anhand seiner hohen, gedämpften Stimme zunächst für eine Frau gehalten hatte, widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Kind, als von Nachbartisch ein unsympathischer junger Mann aufstand (den der Alte vorher flüchtig begrüßt hatte) und das Kind ausschimpfte, dem Alten das Geld aus der Tasche zu essen. Das Kind fing sofort heftig an zu weinen und der Alte tröstete es lange mit sanften Worten, bevor es wieder glücklich Eis as. Nachdem das Kind gegessen hatte, fragte ich den Opa, ob es Schokolade möge und dürfe. Die Augen des Kindes bejahten heftig, wärend der Alte peinlich berührt auf die wegen der fielen Süßigkeiten schimpfenden Mutter verwies. Als er mich aber fragte, ob es sich um russische Schokolade oder ausländische handelte, begriff ich, nun selbst peinlich berührt, daß er mich für einen Spekulanten hielt. Es passiert hier in der Tat oft, daß man in den abstrusesten Situationen von Menschen angesprochen wird, ob nicht Pornografie, Bücher, Wodka… kaufen möchte. Ich erwiderte, daß es sich meines Erachtens um finnische Schokolade handelte, die mir von zuhause geschenkt worden war, brach eine Tafel in der Mitte durch (um mein nicht-kommerzielles anliegen zu Zeigen; auch damit er sich nicht weiterverkaufen konnte – so wie Saschas Vater noch immer einen vor einem Jahr geschenkt bekommen habenden Einwegrasierapparat bei sich trägt, auf eine Gelegenheit wartend, ihn verkaufen zu können) und gab sie dem Alten. Die Augen des Kindes leuchteten, als ich mal wieder gehetzt und leicht errötet den Raum verließ.

 

Meine Lehrerin findet, daß es in Rußland vor allem deshalb eine Geschlechterkrise gibt, weil Männer unter einer Feminisation leideten. Das erklärte sie folgendermaßen: Frauen haben im Verlaufe der letzten 80 Jahren sämtliche gesellschaftliche Aufgaben übernommen – nicht selten unfreiwillig. Sie schmeißen den Haushalt, sind für Kindeserziehung alleinverantwortlich, arbeiten aber vollkommen gleichverpflichtet mit im Arbeitsalltag. Viele Frauen empfanden die Erzeuger ihrer Kinder zu Recht nicht nur als nutzlos in der Alltagsbewältigung, sondern sogar als entscheidende Belastung – und trennten sich konsequenter Weise von ihnen. So kam es zur heute in der Tat klassischen sowjet-russischen Familie der 70 Jahre: Kinder-Mutter-Großeltern. Die Kinder, die jetzt die kapitalnij remont der Landes übernehmen müßten, dem Land ein neues Gesicht verpassen sollen, kennen also vor allem Frauen – in Familie, im Kindergarten und in der Schule. Dann das Anti-Mann-Bild in der Armee. All das begünstigte der Argumentation Tatjanas zufolge eine verweichlichte Riege von verantwortungsunlustigen Tunichtguten, die sinnlos auf den Straßen lümmeln und lächerliche Inszenierungen eines importierten Männerbildes darbieten.

Nach Tatjana ist die wichtigste Tugend von Männlichkeit Verantwortungsfähigkeit und Entscheidungskraft.

B.M. erzälte mir gerade von dem Zustand des Kinder-Krankenhauses, indem Ljoschik sich aufgrund einer Fehldiagnose der behandelnden Ärzte liegt. Sie selbst und Marina haben wohl zum ersten Mal seit Monaten das Zimmer saubergemacht. Selbst die Gesichter der Kinder waren schwarz von herumfligendem Staub und Dreck. Alles mußte geputzt werden: Türen, Fenster, Betten. Die Kinder liegen alleine und werden von Verwandten kaum besucht (Besuch ist natürlich auch unerwünscht, wegen Infektionsgefahr von der Straße). Einwegspritzen gibt es gar nicht. Für eine Abteilung steht eine Schwester zur Verfügung. Diese Zustände sind hier die Norm.

 

Inna hat ein paar pointierte Äußerungen zustande gebracht:

– Wenn ein Mann lange kein Fleisch ißt, kommt er übel ab.

– Wenn eine Frau einen Mann für sich gewinnen will, kann sie ihm ihre Liebe ruhig leidenschaftlich gestehen – muß aber gleichzeitig darauf bestehen, daß sie aus irgendwelchen mysteriösen Gründen niemals mit ihm seien kann.

– Wenn ein Mensch ein großes Ziel für sich sieht, mag er alles auf seinem Weg niedertrampeln; wenn dem nicht so ist, soll er doch lieber leise gehen.

Letzteres erkannte sie für sich und fand es deshalb schwachsinnig, Menschen leiden zu lassen, wenn es sich vermeiden lies. Ich glaube ihr – sie hätte Macht und Intelligenz spielend wesentlich mehr Unheil anzurichten, als sie es tut. Sie ist sehr gut, war dies aber nach eigenen Aussagen nicht immer.

 

Meine Lehrerin ist wunderbare Gesellschaft: Aufgeschlossen, ironisch, kritisch und vielleicht ein bißchen verknallt in mich. Ihr apartes Aussehen in Betracht gezogen, nicht unangenehm.

Wir spielen jetzt vermehrt das alte “implizit grabschen”.

Irina ist doch noch mal mit geliehener Strickjacke aufgetaucht, am letzten Tag ihres Peterburgaufenthaltes. Hat mich und meine Freunde (bes. Alexandra) noch einmal nach Kamtschatka eingeladen und sich beliebt gemacht.

 

Am Wochenende war ich mit Inna in Tallin und Riga. Der Winter war sicherheitshalber noch einmal wider Erwarten ausgebrochen und hat mich tüchtig eingefroren. Ich fühlte mich in beiden Städten tatsächlich etwas wie daheim in Mitteleuropa, was Architektur, Aussehen und Temperament der Menschen angeht. Tallin finde ich von der Anlage her schöner (Ober- und Unterstadt), es nervt aber das übertriebene “Wir sind der Westen” Gezeige. Auch die Schaar von Spekulanten und Unmenge von Valutageschäften (vor allem Finnische Mark). Alles ist schon sehr auf finnische Touristen eingestellt. Riga hingegen überzeugt mit nordischer Gelassenheit und distanzierter Freundlichkeit.

Inna ist eine hervorragende Begleiterin, hat man sich erst einmal auf ihre verläßliche Unpünktlichkeit gewöhnt. Ob dera verpaßen wir auch gleich am Freitag den Zug nach Riga, so daß wir um Frußt zu vermeiden lieber schnell nach Tallin fuhren. Für Russen ist Reisen im Land jetzt auch schon irrational teuer geworden.

Inna hält alles, was ich zu Beziehungen sagen kann, für Kleingeld, weil ich nicht liebe und somit nur schlau theoretisiere.

Überhaupt bin ich in einen Jungbrunnen gestiegen; die Menschen halten mich hier für jünger und kindlicher als ich mich immer sah und immer gesehen worden bin. Ich selbst fühle mich auch reiner, unwissender und jünger als sonst irgendwann. Es hat viel mit Sprache zu tun – ich spreche sowieso wie ein Kind. Unschuld gibt es hier in zwei Ausführungen: Als Zeit für Schuldbewußtsein und Reue, und als Verantwortungsunfähigkeit und glauben an Verantwortungslosigkeit (mein Schicksal ist einfach so passiert…).

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