Petersburg, 09.02.1992: Streeboys, Selbstzweifel & Auktion

Abgesehen von einer persönlichen Sinnkrise, in der ich mich gerade befinde, geht es mir recht gut.

Am Freitag habe ich in einer Unterführung musizierende Raggie-Band kennengelernt. Sie spielten gut genug, um mich eine ganze Weile in der ansonsten nicht gerade einladenden Athmosphäre ausharren zu lassen. Besonders der sehr interessant aussehende Bandleader (Drummer), hatte es mir angetan. Mit ihm traf ich mich dann auch heute und er führte mich in seine interessante Welt der Rhythmusgläubigkeit ein:

Sein Vater ist hier in Rußland wohl der einzige Musiklehrer, der den Schwerpunkt seines Unterrichts ganz auf Rhythmusgefühl gelegt hat. Den Photos und Erzählungen zufolge, hat er selbst Pionierarbeit geleistet in der Entstehung des russischen Hard Rocks. In diesem Sinne wurde auch sein Sohn erzogen und beschäftigte sich somit sein Leben lang mit Musik. Er hat schon in den verschiedensten Ensembles mitgewirkt, angefangen mit Hard Rock, Punk-Rock, Jazz und jetzt also Reggae. Die Szene in der er sich bewegt ähnelt auf den ersten Blick allen Avantgarde-Künstlerkreisen in Großstädten, die ich bisher besichtigte: Marihuana (Anascha), Interesse an östlichen Philosophien und Religionen, Hausbesetzer, Künstler – Lebenskünstler. Ein paar von ihnen haben – wie überall – eine Vision, der sie glauben und auf die sie zuarbeiten und der Rest ist, bisweilen nötiges Beiwerk, das sich um die Kreativität dieser Ausgesuchten sammelt, zumeist wohl mit eitlen Ambitionen.

Zu den Kreativen zählen auf jeden Fall Roma, der ruhig an einer Band arbeitet, die seinen musikalischen Ansprüchen genügt, sein Vater (Igor), der was Energie angeht, das Pendant (Gegenstück) zu B.M. ist. Die Verständigung zwischen Vater und Sohn klappt offenbar ausgezeichnet: Sie demonstrierten mir, wie sie sich nur über rhythmische Klopfzeichen unterhalten konnten (gehört mit zu einer fortgeschrittenen Unterrichtseinheit des Vaters). Bevor Igor angehende Musiker und Tänzer unterwies bzw. anfing Schlagzeug zu spielen, war er Radrennfahrer. Dort kam ihm die Idee, das Rhythmus für harmonisches Zusammengehen von Geist und Körper das Zauberwort sei.

Der Unterricht, den ich mir kurz ansah, wird mit großer Konzentration von den Beteiligten (zumeist Jugendlichen) durchgeführt, beginnt mit Trockenübungen und wird dann mit Musik untermalt. Dort sah ich einige landschaftsästhetische Gestalten wieder, die mir am Abend des Straßenkonzertes schon aufgefallen waren.

Nachdem mir Roma dann seine in sich geschlossene Welt in Form von Musik, Wort, Photos, Marihuana und freundlicher Anwesenheit gezeigt hatte, gingen wir noch zu einem älteren Freund von ihm, der beim Straßenkonzert sehr lebhaft als singender Reggae-Prophet aufgetreten war. Er unterrichtet nach eigenen Aussagen Lama-Buddhismus, lebt in einem ‘besetzten’ Remont-Haus, arbeitet als Restaurator, hat Edelstein-Handwerk (Juwelier) gelernt und vögelt aber glaube ich vor allem sie etwas dümmliche, wohlbebuste Anhängerin, die zusammen mit ihm wohnt. Außerdem hat er aufgrund seiner religiösen Kontakte oft mitteleuropäische Besucher und spricht so etwas deutsch.

 

Mir scheint die Welt gerade wieder so weit und leer, daß ich mir ganz verloren darin scheine, weil sich mir die Frage aufdrängt, wo ich stehe zwischen diesen Menschen, die mich interessieren. Ich bin der ungläubige Sammler von Visionisten, von Gläubigen. Nur mache ich noch nicht einmal daraus etwas – ich drifte weiter; und je größer die Entfernungen, umso bewußter wird die leere des Raumes, durch den ich zerrissen taumele. Nichts, nicht einmal mein eigener Unglaube, überzeugt mich genug um zu verharren, die Rolle des rastlosen Betrachters aufzugeben und dem Kreis der Handelnden beizutreten. Ich habe eine notorische Angst davor, Schleusen zu passieren und laufe damit Gefahr, einer Illusion von ewiger Jugend zu verfallen.

Noch erheischte ich die für mein zerbrechliches Selbstwertgefühl so wichtige Aufmerksamkeit und Bewunderung durch mein verzweifelt universales Interesse. Leider gibt es bei mir kein deutliches Talent, das beim Selektionsprozeß hilfreich beteiligt wäre – alles was ich habe ist meine gottverdammte Konversationsintelligenz und meine Fähigkeit verheißungsvoll aufzutreten. Ich habe aber überhaupt keine Vision, keine Hoffnung, keinen Glauben… . Ich bin so leer, wie ich Begabung verheiße. Ließe ich es auf eine Probe ankommen, indem ich mir einmal ein festes Ziel steckte, so wäre ich in den meisten Fällen unteres Mittelmaß.

Eine der Eigenheiten, die mich mitunter so rastlos macht, ist es, sich Größe vorstellen zu können und Geschmack für schöpferische Schönheit zu haben. Ging’s ab wie bei Peer Gynt, stünde am Ende meines Weges wohl auf jeden Fall der Knopfgießer. Just an other freak.

 

Gestern mit B.M. auf Rockfestival gewesen. Von den vielen Gruppen war eine ganz interessant, nämlich „Auktion“. Sie brachten in ihrer Darbietung über Musik, Tanz und Schauspiel, wie wohl auch Texte die Stimmung rüber, die auch „Die Erde“ zu vermitteln sucht: Das Leben ist böse, kalt und brutal; besonders zwischenmenschliche Beziehungen.

Die anderen Gruppen haben alle schrecklichen Lärm gemacht. In ihrer starken Kopflastigkeit und dadurch einseitigen Ausrichtung auf den Text, ist russische (Rock und Pop) Musik sowieso meist unerträgliche.

 

–> next page