Petersburg, 08.06.1992: Sasha & Zweifel am Beziehungsverständnis des “Neuen Manns”

Old Sascha nach tausend Jahren mal wieder gesehen. Er war die letzten Wochen in Moskau, um sich taufen zu lassen (seltsam, daß er nicht ertrunken ist).

Da er aber auch einen kleinen Business mit dem verkaufen von nur in Moskau erhältlichen Finanzzeitungen begonnen hat, fand er sich ohne einen Rubel in den Taschen von zwei kräftigen icklut­schonnim im lärmenden Waggonzwischenraum auf Geld zum Kauf von Wodka angehauen. Da er ihnen nichts geben konnte, gab ihm der eine ‘nen provisorischen Kinnhaken und nahm dem armen Sascha seine teure Westuhr ab. Bogie nahms leicht, die Profies auch, und so unterhielten sie sich dann noch eine Weile angenehm bei brüderlich geteiltem Wodka.

Sascha stellte dies sichtlich ungerührt als völlig normale Zug­begebenheit dar (“sie nehmen niemals mehr, als sie brauchen”). Sein Pech war es halt nur, daß er kein befriedendes Geld, tschtob igti na trjoch, hatte.

Außerdem erzählte er folgende Anekdote zum Thema Inflation: Vor nicht allzu langer Zeit saß er mit Wilenskij in einem Cafè, trank dort Kaffe und aß Nüsse. Während ihres Gespräches regi­strierte Sascha am Rande, wie der Genosse Wirt ein offensicht­lich nicht besonders angenehmes Telephonat führte. Der Wirt kam dann auch, mit erwas betretenem Gesicht (er kannte Sascha und Wilinskij recht gut) an ihren Tisch und sagte, daß die Preise der (verzehr­ten!) Speisen sich grade verdoppelt hätten. (“Hier Smolni – Preise verdop­peln – Ende”).

Tatjana erzälte mir, wie sie vor ein paar Monaten den Versuch unternahm, Glasnost auch in ihren Pass Einzug halten zu lassen: Sie ließ neue Paßbilder machen und nahm es sich dabei heraus, freundlich zu Lächeln. Der Photograph gebot daraufhin wenig beeindruckt: “sakrite rod.”

 

Möchte jemand hier wissen, was das ist, die Deutsche Seele, so empföhle ich ihm in folgender Reihenfolge vorzugehen: 1. Lanza-Romane aus den 30’ger Jahren lesen (deckt 83% der Deutschen Seele ab), 2. Das Nibelungenlied lesen und etwas Wagner dazu hören – aber nicht zu viel! (weitere 13%), 3. Faust lesen (er­sten Teil, 3%). Das verbleibende 1% gehört denjenigen, die sich nach Weltkultur sehnen.

 

Wie ich das hasse: Konsequenzen, vor die mich Menschen stellen. Und dann diese Wände hier im Haus: Zu schwach, um wirklich irgendwo gegentreten oder boxen zu können, seinem Ärger Luft zu machen.

Inna hat die Faxen dicke vom Neuen Mann, der sie mit seinen grausamen Be­griffen von Freiheit, Beziehung und Selbstständig­keit quält, ihr für ihre Toleranz aber nur Leidenschaften in der Lage ist ins Fleisch zu pflanzen, ansonsten nur nimmt.

Die nahende Alexandra drängt nach Entscheidung – und selbst da lasse ich sie alleine, in meiner abwartenden Bacchus-Haltung. Alles muß sie selbst machen: Lieben, Leiden, Hassen, Trennen, die Leidenschaften mit ins Bett bringen. Und ich? Stehe die ganze Zeit da, in den Türrahmen gelehnt, mal laut, mal leise betrachtend mit freundlichem Lächeln und kräftigen, offenen Armen. Regungslos.

Inna: ja bajuc tebja. U menja, konjetschno.

Susan, auf die Frage: “How are you relating to your memory of me?”: nervous.

Fees schmerzhafte, dunkle Erinnerungen an mich, die überwiegen.

Dabei will ich nichts anderes, als den Menschen so gut tun, wie sie mir sind. Und mir waren Menschen immer wieder aus freien Stücken (wie denn auch sonst) über die Maßen gut.

Aber letzten Endes gehen immer sie, und ich verbleibe – bei mir. Auch eine Form der Stagnation.

Ich habe halt nur Nr. 2én, und nach etwas Kampf um die Vorrang­stellung wollen es die meisten Starken dann halt wissen. Und da ich keine Konsequen­zen ziehe (weil ich es nicht kann; ich sehe keine Konsequenzen), ziehen sie.

Ich verstehe einfach nicht, was sie wollen. Nur, daß ich eben das nicht bereithalte. Sie scheinen so viel mehr zur Freund­schaft zu benötigen, als ich. Und halten mich deshalb für leich­ter, oberflächlicher oder kälter. Aber ist Tiefe dann nicht nur wieder ein Euphemismus für Abhängigkeit, Schwäche, kurz: Unfä­higkeit das Erbe Adams (nur er hat gebissen, glaube ich) anzu­treten.

Aber was soll’s, vielleicht haben sie ja recht; wenn es denn auch nur eine Illusion ist, warum sollen wir uns denn dem Got­tesurteil fügen und uns ein Paradies, wenn auch nur auf Zeit, nicht selbst auf Erden zurückerobern? Einsamkeit und Sterblich­keit solang es geht weglieben.

Aber natürlich: Wie lange kann ein solcher Zauber, im Bewußtsein der Lüge begonnen, denn dauern? Und mit dem Fall der eigenen eitlen Illusion gegei­ßelt zu werden, ist nicht nur schmerzhaft, sondern auch peinlich.

–> next page