Petersburg, 07.01.1992: Trampgeschichten & Moskau Putsch

Im Rückblick fliegt sogar die von Krankheit träge Zeit mit seichtem Husch! vorbei.

Meine Gedanken durch die Vergangenheit schwärmen lassen, kamen mir noch ein paar Geschichten in den Sinn. Ich kann mich nicht erinnern jemals so sorgsam an die eigene Vergangenheit gedacht zu haben. Gewöhnlich nimmt mich zu Glück die Gegenwart genügend ein, mir diese Grabgräbertätigkeiten zu ersparen.

1.

Vor ein paar Jahren trampte ich nach Mailand. Ich erwischte durch eigene Unaufmerksamkeit die falsche Autobahn (Richtung Frankfurt) und konnte mir so meine Hoffnung, inerhalb eines Tages anzukommen, schenken.

Auf einer Raststätte hinter Frankfurt hatte ich zudem auch noch wenig Glück und wartete schon annähernd eine Stunde, als ein Kleinwagen rasant vor einer Tanksäule hielt und die aussteigende Frau mittleren Alters mich heranwinkte. Da sie alleine unterwegs war, ging ich nicht davon aus, daß sie mich mitnehmen wollte und ging erst einmal ohne meinen Rucksack zu ihr hin. Sie unterbrach meinen laxen Schlendrian noch bevor ich sie ganz in den Bannkreis meiner Persönlichkeit bringen konnte, indem sie mich aufforderte, ihren Tank vollzumachen und die Scheiben zu putzen. Da mir auch damals schon ein gewisses Wirkungsbewußtsein zurecht nachgesagt wurde und ohnehin nichts Besseres zu tun anstand, spielte ich bereitwillig und leicht amüsiert den Tankwart auf der SB-Tanke für die leicht verwirrt erscheinende Dame.

Als ich fertig war und sie bezahlen wollte, verwies ich sie höflich auf die Kasse gegenüber und klärte sie über mein klägliches Tramperschicksal auf. Sie hatte soweit Vertrauen geschöpft, daß sie mich wohl nicht nur aus Verlegenheit mitnahm.

Als sie vom Bezahlen zurückkahm, hatte ich etwas Zeit, meine Chauffeurin näher zu betrachten: Eine drahtige Frau zwischen 30 und 40, schwer zu sagen, nicht unattraktiv, mit einem offensichtlich verwirrtem Gesicht, aus dem gehetzte Augen funkelten. Da ich meine letzte Fahrt nach Mailand mit einem psychopathischen Nervenwrack begonnen hatte, die mit 35 ihren ersten run-away-trip im Mercedes des Vaters unternahm, war ich ob dieser Beobachtungen etwas vorsichtig in meinem Betragen.

Wie wir die Rollen verteilten, und auf welche Weise sie den Bericht über die Abgründe ihrer gegenwärtigen Lage einleitete, weiß ich nicht mehr zu sagen. Auf jeden Fall erzählte sie mir sehr bald sehr antuend von den Dingen, über die sie zu der Zeit tatsächlich etwas zu sagen hatte: Sie war Anfang Vierzig, wie sich herausstellte, und fand ihr Leben an einen trägen Mann verschwendet, den sie zwar sehr mochte, der sie aber zäh durch konventionelle Rollenvorstellungen an jeglichem Vorwärtskommen hinderte. Sie hatte unlängst den Versuch unternommen, sich mit ihren gemeinsamen drei kleinen Kindern von ihm zu trennen und sich in Rotenburg/Wümme als Tanzlehrerin selbstständig zu machen. Da das aber mit großen materiellen wie emotionalen Schwierigkeiten und Rückschlägen verbunden war, war sie mit der Zeit auf die flehentlichen Bittgesuche ihres Mannes hin weich geworden, und befand sich nun, just da ich in ihr Leben trat, auf dem Weg zu einem ersten Wiedertreffen mit ihrem Mann.

Gängige Geschichte einer kreativen Frau ihres Alters also, allerdings so anrührend verzweifelt vorgetragen, daß ich mich in der Lage fand, Anteil zu nehmen.

Wie konnte ich reagieren? Sie nervte mich weder, noch langweilte sie mich, sondern sie berührte mich mit ihrer bloßstellenden Einweihung. Ich fand ich schuldete ihr zumindest Authentizität. Was anderes kann man denn zurückgeben als sich selbst, wenn ein Fremder von sich selbst gibt? Sich als objektiver Maßhalter in eine Situation von außen hineinfinden, ist ja bei guten Bekannten schon meist ein heuchlerisch schwieriges Unterfangen.

Nur – wie gibt man sich? Ihr von dem Beziehungsverständniß eines 18jährigen zu erzählen, der Jüngling war und noch mit keiner Frau auch nur irgendeine Beziehung in einer Art eingegangen war, die vergleichbar gewesen wäre mit der, unter der diese seltsame Gefährtin litt, erschien mir sogar damals, als ich noch glaubte soviel zu wissen, etwas suspekt.

Zunächst drückte ich ihr, soviel ich mich erinnere, eben das aus. Und danach gab ihr sich selbst in meiner Reflektion. Ich faßte mein Eingenommen sein in Worte. Das war nicht viel, denn es gab kaum etwas zu sagen, aber sie nahm es sehr ernst.

Es war schon dunkel geworden, als wir an der letzten Raststätte vor ihrer schicksalhaften Ausfahrt anhielten, um noch einen Kaffee gemeinsam zu trinken und uns dann zu verabschieden.

Den Kaffee fand sie zu schnell getrunken und so sie bat mich, noch einen Spaziergang durch die abendliche Feldmark mit ihr zu machen. Ich willigte ein.

Wir sprachen wenig, und das sehr leise und langsam. Auf dem Höhepunkt unserer großen Zuneigung suchten wir körperliche Nähe beieinander. Wir umfaßten einander fest, ich nahm sie auf und wir küßten uns zärtlich und lang. Danach gingen wir stumm zum Auto zurück.

Bevor sie einstieg, fragte sie mich, ob ich ein Engel sei. Meinem erstaunten Gesicht zufolge, verwies sie mich auf den Film “Der Himmel über Berlin”, den ich damals noch nicht kannte, und fuhr.

Ich habe sie einige Jahre später in Rotenburg noch einmal wiedergesehen. Sie lebte zusammen mit ihren Kindern und einem jungen Mann, den sie in ihrer Tanzschule kennengelernt hatte.

2.

Im Anschluß an dieses Erlebnis bekam ich noch wider Erwarten eine Mitfahrgelegenheit mit einem spät zu seiner Familie heimkehrenden Geschäftsmann. Er wollte 70 km vor München abfahren und mich vorher auf einer Raststätte rauslassen. Da ich eine kalte Nacht (es war Herbst) auf einem Rastplatz vor mir hatte, gewährte ich mir dummer Weise ein Nickerchen. Mit dem strahlenden Gönnerblick weckte mich mein freundlicher Fahrer und eröffnete mir, das er mich noch eben nach München gefahren hätte. Nun ist München ein Moloch für Tramper sogar tagsüber, aus dem man nur mit Mühe und großem Zeitaufwand wieder herausfindet. Er war allerdings schon abgefahren, als ich mit schrecken feststellte, wo in München er mich abgesetzt hatte: Irgendein abgeschiedener Parkplatz in den Vororten. Zwar gab es in der Nähe eine U-Bahn, nur hatte die den Verkehr schon seit 1.00 eingestellt. Ich hing also ohne irgendeine Unterstellmöglichkeit dran, als es sanft anfing zu regnen.

Dieses Geschenk Thors sah ich allerdings bevor ich es spürte in den Scheinwerfern eines einsamen VW-Busses, der auf den Parkplatz gerollt kam. Ich ging also hin, ein hagerer, verlebt aussehender Mann saß am Steuer, eine hübsche junge Marokkanerin neben ihm, und fragte freudig, ob sie heute Nacht noch aus dieser Wüste fortführen in belebtere Gegenden, was sie zu meinem Erstaunen eher barsch verneinten. Ich ging zurück zu meiner Bank und harrte der Dinge, die auch kamen: Ich war noch nicht gänzlich durchnäßt, als eine große, schwarze Limousine vorfuhr, mit laufendem Motor anhielt, ein Hüne den Beifahrersitz freigab um die hintere Wagentür zu öffnen, aus der ein gedrungener, dunkel bekleideter Herr ausstieg und zum VW-Bus ging. Nach kürzester Zeit war der Deal gemacht und die Limousine fuhr ab, ohne daß mir irgendjemand die Kehle durchschnitten hätte. Darüber freute ich mich als erstes. Die zweite Freude bereitete mir das schmierige Langhaar, indem er zu mir kam und mich fragte, wohin ich eigentlich wolle. Ich sagte Mailand und er antwortete, daß ich, sofern ich kein Rauschgift bei mir hätte, mitfahren könne, denn dies sei zufällig auch seine Bestimmung.

Wir fuhren noch bis in die Schweiz, wo seiner Meinung nach die Grenzkontrollen nicht so harsch waren, und übernachteten dort in dem Camping-mobil. Ich hatte auf dieser kurzen Wegstrecke schon in Erfahrung gebracht, daß er seinen zweifelhaften Angaben zufolge, nicht mehr mit Rauschgift deale, sondern nur noch mit Frauen. Konsequenter Weise bot er mir dann auch seine Frau an, mit der einleitenden Bemerkung, daß sie nie Unterwäsche trüge und man ihn demzufolge einfach “reinknallen könnte” (wörtl.:”Schiebst den Rock hoch und knallst ihn rein”). Dieses Feindbild wird meinem Fahrer allerdings nicht gerecht: Er war ein netter Kerl, der gerne aufschnitt und sich offensichtlich mit zugegeben vielen Mitteln von ganz unten hochgeboxt hatte. Auch dieses tripal-Angebot ging allem Anschein und seinen Aussagen nach von der Frau aus, die einen Narren an mir gefressen hatte und ihn in meiner unbeteiligten Anwesenheit dann auch nicht beiließ, was ihn etwas verdroß.

In Mailand kam ich dann am nächsten Morgen wohl eingestimmt an, um meine Szenen-Zeit mit Lisa zu verbringen. Ihren Tagebuchaufzeichnungen zufolge fand ich unbescheidene sechs Ausflüchte als Erklärungen, warum ich nicht mit ihr schlief (Jungmännlichkeit, Präser, Aids, Celia, Bändchen, ?).

3.

Mein erstes Mal in Moskau kam es am Montag des Putsches zu einer für mich bemerkenswerten Begebenheit.

Noch nichts von den politischen Geschehnissen wissend, fuhren Aleksander und ich in die Innenstadt, um der Familie eines Bekannten von Maria ein Paket zu überbringen und ein paar Telefonate von der Hauptpost aus auszuführen. Die Wohnung der Familie lag, wie die Post, ganz in der Nähe des Roten Platzes und so bekamen wir noch bevor wir zu der Familie kamen, eine Idee davon, daß etwas passiert war: Eine kleine pro-russische Demonstration hatte sich in der Straße vor der Post versammelt und die Zufahrten zum Roten Platz waren mit Bussen versperrt.

Es war halb elf Uhr Morgens und die Telefonate waren erst für 12.00 bestellt, demgemäß hatten wir noch Zeit, das Paket abzugeben. Als wir zur Wohnung kamen, die in einem der privilegiertesten Viertel Moskaus liegt, direkt neben der holländischen und japanischen Botschaft, öffnete uns eine auf den ersten Blick Großartigkeit verheißende Frau in den Fünfzigern. Im Hintergrund schawänzelte ein heulender junger Mann herum.

Die Frau ließ uns ein und erzählte gefaßt aber offensichtlich tief bewegt von den Ereignissen. Sascha wurde es etwas mulmig, weil er weder Paß noch Visa dabei hatte, ich war sehr angenehm aufgeregt. Wir ließen unsere Sachen da und gingen zurück in Richtung Roten Platz, um zu sehen, war sich zutrug. Auf halben Weg fiel mir auf, daß ich meine Photoausrüstung vergessen hatte, und so eilte ich, während Aleksander irgendwo anstand, um Hähnchen zum Frühstück zu organisieren, zurück zur Wohnung. Die Frau, eine Künstlerin aus alter Intelligenzija-Tradition, wie wir herausgefunden hatten, öffnete wieder und ich erklärte mein Anliegen. Irgendeinem mysteriösen Einverständnis folgend, nahmen wir uns, nachdem wir einander eine Weile stumm angesehen hatten, in die Arme und küßten uns zart auf die Lippen. Es war da keinerlei Peinlichkeit, als ich darauf meine Kamera griff und ging, nur das Bedauern darüber, diese berauschend schöne Frau schon verlassen zu müssen.

Nachdem der Tag dann mit einem Bad im russischen Fatalismus vorübergebracht war, mit den Ausnahmen des Fleckenweise in die Öffentlichkeit brechenden russischen Nationalismus (auf Seiten der Putschgegner!), gingen A. und ich der Einladung besagter Intelligenzija-Familie nach, mit ihnen zu Abend zu essen. Ich lernte dort dann den Mann zur Frau kennen, ein Wirtschaftswissenschaftler spezialisiert auf Kapitalismus, mit permanentem Ausreise-verbot, der mit einer körperlichen Verkrüppelung zu kämpfen hat. Dieser wies mich auch darauf hin, daß es beim derzeitigen und zukünftigen Machtkampf im Kreml, um eine Auseinandersetzung zwischen Rußland und der Sowjetunion gehen werde. Er hielt eine lockere Konföderation zwischen Staaten der UdSSR für ratsam, genauso wie er es für unabdingbar ausgab, daß auch Rußland in eine Föderation umgewandelt werden müsse.

Ein irritierender Kontrast zu all seiner Selbstsicherheit im Denkbaren, war sein Sturz im Wohnzimmer: Diesen großen Geist im hilflos am Boden liegenden Körper gefangen zu sehen, unfähig ohne meine Hilfe aufzustehen, einhergehend mit seiner anschließenden Unfähigkeit mit seiner Scham umzugehen, waren für mich bedrückend.

Ich möchte nach Moskau vor allem deshalb so bald zurückfahren, um diese Familie wiederzusehen. Sie waren bisher die Einzigen, die ich ausdrücklich zu mir nach Deutschland einlud.

–> next page