Petersburg, 04.02.1992: freie Schönheit, Unmut, Orthodoxie

Nur Schönheit kann frei von Schönheit träumen, kann Schönheit bei anderen suchen um diese zu lieben. Nur Schönheit will Schönheit nicht eifersüchtig verteidigen, neidisch in den Dreck ziehen, kann von Schönheit furchtlos eingenommen werden. Nur Schönheit kann Schönheit ungekränkt ziehen lassen. Nur Schönheit kann Schönheit lieben.

“Für die häßliche Welt ist Schönheit ein Spucken ins Gesicht”.

Ich würde heute gerne so lange trinken, bis ich das Glas nicht mehr finde. Von dem frustgekauften Glenmorangie übrigens, den ich trinkend hier sitze, von Finnischer Schokolade kostend – ich war im Valuta-Shop.

Nachdem heute alles mögliche kleine schiefgegangen war, gab ich mich einem Hassanfall gegen diese Umwelt hin, wies einen bettelnden kleinen Jungen, der mich schon einmal mit bemerkenswerter Penetranz genervt hatte, barsch in Frühkapitalistenmanier abwies und betrat direkt danach die wenige Meter entfernte Insel der Habenden, wo ich auf Papas kosten böswillig oben genannte Produkte kaufte.

Hat man hier Dinge wie Post oder Telefonate dringend zu erledigen, kann einen wirklich der Alltagswahnsinn packen.

 

Es ist mitunter grotesk mitanzusehen, wie viele Menschen hier völlig unkritisch versuchen Selbstbewusstsein im offensichtlich Äußeren zu finden. Beispiele:

– Je prachtvoller eine Pelzmütze, um so wärmer ist sie meist auch. Obwohl wir die letzten Wochen ausnahmslos ekelhaft warmes Wetter gehabt haben, tragen die Russen, die etwas auf ihre Kopfbedeckung halten, diese wann immer sie könne: In Geschäften als Verkäuferinnen, in der Metro.

Dazu ist zu bemerken, daß es hier an monströsen, äußerst interessant anzusehenden Pelzmützen nicht mangelt.

– Frauen tragen hier nicht selten auch in dieser Jahreszeit kurze Röcke mit (zumeist Sowjet-) Strumpfhosen. Manchmal mag Not sie dazu veranlassen. Oft ist es aber offensichtlich, daß sie den kurzen Rock teuer gekauft haben und für chick halten. Lange Klamotten sind bis auf Jeans zumeist Sowjet-Klamotten.

– Außerdem ist hier natürlich der Lable-Krieg ausgebrochen. Geschmack und individuelles ästhetisches Empfinden zählen, was das Gesamtbild angeht, nichts. Die Aufschrift “Westen” – die origineller Weise meist in Taiwan hergestellt wurde und in Form von dick und unbequem aufgenähten bunten BOSS-Zeichen den Betrachter anfallen – ist definitiv wichtiger als der Inhalt.

In der Art, wie sie auf ihre Vergangenheit spucken, undankbar mit offenen Händen Geschenke annehmen, sich dem Westen, zu dem sie keine andere Beziehung als ihre blöde Vorstellung von Reichtum und Luxus haben, prostituieren, können die meisten Russen wirklich nicht als stolz bezeichnet werde (und tun sie dies auch nicht!).

Allerdings habe ich in Demut würdevolle Intelligenzija mehr als einmal getroffen, und auch Überbleibsel von zaristischem Offiziersstolz (Offizier in Moskau, Witali). Und in ihrem Empfinden Weltbürger (B.M., vielleicht Irina).

Es ist wohl wirklich kein Zufall, das der Autor des Gedanken, demzufolge die Eigenverantwortung für ihr Schicksal dem Menschen die Größte Bürde ist und er nach nichts so sehr trachtet, als diese los zu werden, ein Russe war. Die Russen – allen voran gerade die Intelligenzija – tut wirklich so, als hätte sie mit der aus der Vergangenheit resultierenden, gegenwärtigen Situation gerade so viel zu tun, wie die Fliege mit dem Klebeband, an dem sie verreckt. Vielleicht ist dieser “Schock der Eigenverantwortlichkeit” der wichtigste Grund dafür, daß so viele Menschen, wieder gerade auch junge Intelligenzija, Zuflucht in Religionen mit einem sehr klaren Menschenbild und vielen strikten Regeln sucht. Orthodoxie, wie Hare Krishna (die hier boomen), wie Babtists und andere amerikanische Sekten, scheinen dies als große Verlockung zu bieten.

Der Großinquisitor, der bereitwillig für alles die Verantwortung übernahm, und von dem man im Hassen sogar billig Identität und Orientierung bekam, hat sich selbst (mit ein bißchen Hilfe von außen) verbrannt.

Spiegel sind ein großes Defizit hier.

Die wichtige Besonderheit im christlichen Glauben, scheint mir tatsächliche der Glaube an einen von Gott gegebenen Freien Willen zu sein, der eine Abkehr von Schicksalsergebenheit bedeuten konnte – und letzten Endes wohl mußte. Von der Richtung, die dieser Freie Wille den Menschen veranlaßte einzuschlagen, hing sein ganz persönliches Schicksal ab. Das gilt für’s Diesseits wie für’s Jenseits. Weder hatte man automatisch eine Freikarte ins Paradies, noch ging’s definitiv ab in den Hades.

Die Orthodoxie verharrte anscheinend auf einer Vorstellung vom Paradies mit sieben Siegeln, daß nur von wenigen erreicht wird. Im katholischen Christentum wandelte sich die Vorstellung je nach Opportunität der Macht gelegentlich; einhergehend mit dem sich aus der Taufe hebenden Bürgertum war das Paradies zwischenzeitlich ja sogar käuflich (Ablaßhandel). Geblieben ist im nicht-orthodoxen Christentum die Zugänglichkeit des Paradieses, ohne den ganzen Lebensweg ändern zu müssen. Einzelne, nicht selten materielle und institutionalisierte Handlungen reichen als Eintrittskarte aus. Demut (überkommen des Eigendünkels in der religiösen Erkenntnis) im Angesicht Gottes hat keinen Stellenwert – sie ist für egoistische Furcht vor der Kirche (Katholizismus) bzw. glauben an die richtige Gesinnung (evangelisches Christentum) eingetauscht worden.

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