Petersburg, 03.02.1992: Literatur, Fotos & Sashas Abgleiten in die Orthodoxie

Die Mädels waren da und wir haben Villon/Heine gemacht. Elena kommt in der Tat easy ab.

Abends kam Irina. Sie ist ganz versessen darauf, daß ich Photos von ihr mache. Es stört sie dafür auch nicht, ein Krampf im Arsch zu sein; mit Absagen kommt sie aber auch klar. Ich habe gestern dann mal auf eigene Kappe ein paar dekorative Aufnahmen gemacht. Könnten gut geworden sein – sie ist kein so schlechtes Modell, wenn sie auf Weibchen-Klischees verzichtet.

Ansonsten war unser Treffen wesentlich angenehmer als das vorangegangene. Ihre Erwartungshaltungen betreffs meines Verhaltens scheinen milder als von mir immer wieder befürchtet.

Auch sie fand großen Gefallen an den Photos von Alexandra und sieht diese immer wieder lange an. Das ging jetzt so weit, daß Irina Feja mit mir zusammen nach Kamtschatka einlud. Auch Gäste B.M.’s erkundigen sich immer wieder nach der Frau auf dem einen kleinen Photo, daß sie von Alexandra hat. Dieses hängt nicht besonders auffällig zwischen hunderten von anderen. Ungewönlich guter Geschmack scheint hier zu grassieren.

Aleksander sehnt sich sehr nach mentaler Ruhe, die er in einer Religion zu finden hofft. Alle seine Freunde sind ernsthaft dem orthodoxen Glauben beigetreten und versuchen, besorgt um seine Seele und die Dämone, die nach dem Tod den Zoll auf dreißig Stationen zum Paradies in Form von guten Taten kassieren , Überzeugungsarbeit zu leisten. Der orthodoxe Glauben ist nämlich in der Tat einer, der einen exklusiven und absoluten Wahrheitsanspruch erhebt. Außerdem ist Gottesfurcht ein wichtiger Bestandteil dieser Religion, auch gerade im Hinblick auf die Hölle – in die allerdings ohnehin fast jeder kommt.

 

Ich erlebe A. in dem sehr aufwühlenden und schmerzhaften Prozeß des ‘religiös Werdens’ in einem orthodoxen Sinne.

Wir reden folglich viel über Religion. Folgende Begriffe muß ich in diesem Rahmen für mich klären:

  1. Würde – Selbstwertgefühl / Ausdruck der Würde im ‘Nein’, nicht im ‘Ja’:
  2. Würde, weil man angesichts der Erkenntnis Gottes nichts zu verlieren hat – Freiheit – Demuth – Gelassenheit – Nicht Tun; 2.1 Entwürdigung: Äußerliche Entwürdingung nicht möglich (“unantastbar”)
  3. Würde, weil man Dinge besitzt, von denen man Identität und Selbstwert ableitet – Stolz – Selbstgefälligkeit / Selbstzufriedenheit / Ruhe – Trägheit – Handlungsunfähigkeit; 3.1 Entwürdigung: Entwendung der Besitztümer, von denen Selbstwert abgeleitet wird – a) anything goes (Marx, Harlem), b) lethargische Selbstaufgabe, c) Kampf um Besitztümer

In Situationen, in denen es nicht ums Überleben geht sehen 2. und 3. sich oft sehr ähnlich.

B.M., Sascha und Andere sagten in der Vergangenheit immer wieder, daß es in Rußland keine Würde gebe. In Deutschland viel Sascha gerade die Würdevolle Atmosphäre auf. Gemeint ist die Handlung in der äußeren Betrachtung, also 2. von 3. nicht zu unterscheiden, angenommen wird aber natürliche 3..

Sascha (sein Mönch-Freund) geht davon aus, daß diese Fähigkeit zur äußeren Würde (was evt. Eigendünkel entspricht!) an materiellen Dingen hängt und maßgeblich provoziert wurde durch eine (Hoch-?) Mittelalterliche Sanktion eines Papstes, der die Idee des Fegefeuers einführte – und damit u.a. den letztendlichen Bruch mit der orthodoxen Kirche bewirkte: Indem dem Menschen mit dem Fegefeuer als universale Läuterung, eine Garantie gegeben wurde, ins Paradies zu kommen (das nach orthodoxer Vorstellung äußerst verschlossen ist und nur von Heiligen erreichbar), sofern er keine Todsünden begangen hat, wurde es dem Menschen leichter, seine Demuth in Gottesfürchtigkeit abzulegen und ein individuelles Selbstwertgefühl (Eigendünkel) zu entwickeln.

Weitere große Schübe für die Emanzipation von Gott (aus orthodoxer Sicht: Entfremdung, größte Sünde) gab natürlich die Renaissance (Individualismus, aufkommendes Bürgertum mit vor allem materiellen Besitztümern als Fundament für Selbstwert), Aufklärung (rationale Selbsterkenntnis, empirisches Weltverständnis) und die Industrialisierung zur Moderne (Konsum, Massenmaterialismus).

So konnte trotz Überlebenskampf ein strickt undarwinistisches (würdevolles) Verhalten entstehen, daß Engländer auch während einer Schlacht ihren Tee zu sich nehmen läßt (s. “Asterix bei den Briten”), gerade Schlangen an Bushaltestellen nach sich zieht und das überqueren der Straßen in Deutschland im Gegensatz zu Rußland ohne ernste Verletzungen möglich macht.

Ein interessanter Gedankengang.

 

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