Petersburg, 01.05.1992: Meister Eckert

Ich beschäftige mich jetzt seit ein paar Tagen mit dem aller­liebsten Durchfall und Meister Eckert. Eben Letzterer hat wirklich etwas zu sagen. Die Lektüre seiner Predigten und Traktate hilft mir, Klarheit zu schaffen zwischen Spiritualismus und Mythologie.

[Im Moment gesellt sich zur sonnigen Morgenstimmung noch ein ausgewachsener Teeanfall mit hinzu, begünstigt durchs Durch­fallbeding­te fasten – mal wieder hart an der Kotzgrenze]

Sein Zugang zu so irdischen Dingen wie Natur, Sünde, Ver­suchung, Leidenschaften, Schönheit, Genuß… gleichen öst­lichen und Castaneda in sofern eher, als daß er sie nicht verteufelt, sondern als anerkennenswerte, sogar liebenswerte Welt des Ler­nens und Fortschreitens sieht. Seiner Meinung nach ist alles, sogar die Versuchung zur schlimmsten Todsünde – ja, selbst die Todsünde selbst – Gaben der Gnade Gottes. In dem Sinne, daß es den Menschen anstößt, aufrüttelt und ihn nicht bei sich verharren läßt. Da auch für Meister Eckhard der Eigendünkel die größte Last ist, kritisiert er folgerichtig mit gleicher Härte die Selbstgefälligkeit im “sich gut verhalten”, wie im sich willig der Sünde preisgeben. Sein Verständnis vom Guten ist der Wille zu Gott, der sich auf ein Sein gründet, also nicht auf glauben, meinen, im weitesten Sinne auf sich in Selbstdarstellung selber erzeugen, sondern Demütigung des Eigendünkels im Willen zu Gott, letztenendes in der Erkenntnis Gottes und Vereinigung (im wört­lichen Sinne!) mit ihm. An der Stelle überwindet der Mensch also auch bei ihm die Welt der Erscheinungen und geht ein in die Ewigkeit.

Kern dieses Gedankens vom ewigen Leben ist es (wieder wie im Buddhismus und bei Carlos), alles Vergängliche im Leben selbst zu vergehen und all sein sein auf die unveränderliche Welt zu richten. Das heißt sterben im eigentlichen Sinne; denn alles, woraus der irdisch geborene Mensch Identität (sein “Ich”) ab­lei­tet, ist veränderlich, also vergänglich. Er tötet sein “Ich” und definiert das, was bleibt, als Gott, denn es ist etwas seinem “Ich”, das ihm eigen war, als er den Weg der Demütigung begann, fernes. Folglich scheint es eigen zu sein, unabhängig vom sterb­lichen Einzelwesen – also wesentlich und unvergäng­lich.

Ob dies nur wieder eine besonders feine Art des Selbstbetruges ist, oder der Tao, muß jeder selbst in seinem Herzen finden.

 

Ansonsten habe ich jetzt Lust eine Art Reisezeit beginnen zu lassen. Dafür muß ich kommende Woche folgendes klären:

– Bei Uni: Kann ich mit meinem Visum beliebige Teile der ehem.    UdSSR für Rubel anfliegen?

– Kosten von Flügen nach Tiflis, Irkutsk, Kurilen?

 

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