Moskau, 12.01.1992: Eindrücke

This morning I found, thinking of Nicky:

A dream within a dream

Es war das erste Gedicht, das ich von Poe aufschlug. Danach griff ich mutig nach einem der drei gefundenen Oscar Wild Ausgaben, schlage es auf – und finde:

THE BALLAD OF READING GAOL

Abends

Moscow realy is a tiering city!

Aber ebenso eigenartig schön. Die Ästhetik, mit der man hier angefallen wird ist ebenso aggressiv wie faszinierend. Da Stalin es kaum zuließ, daß eine Mauer älteren Datums als 1920 bestehen blieb, gibt es einfach überall den grandiosen Größenwahn mit einem Hauch von fauligem Atem der sowjetischen Geschmacklosigkeit stalinistischer und chrustschowtscher “catch up and overtake” Ideen. Es ist alles sehr rührend anzusehen, nur grausam die Vorstellung, das Menschen ihren Alltag in und um diese Manifestationen wahrhaft grausamer – weil kalter – Menschen- und Weltbilder gestalten.

Die Stimmung in den Straßen und öffentlichen Plätzen, empfinde ich in der Tat als agressiver und kälter als in St. Petersburg. Es wird eine Rolle mitspielen, daß der Unterschied zwischen arm und reich, mächtig und ohnmächtig hier sehr viel sichtbarer ist. Es gibt sehr viele Neureiche hier, und die schaffen sich mitten in der bescheidenen Welt der Massen ihre elitären Enklaven, die sie mit viel Mühe bewachen lassen.

Russen, die nicht offensichtlich oder bekanntermaßen zu dieser Hautevolee gehören, werden überall diskriminiert: Kein Zugang zu besseren Restaurants, Hotels, Nachtleben, Taxis… . Ihnen wird der Stempel “graue Masse” allerorts aufgewuchtet.

Wie ertragen die’s?

Viele, wie Aleksander bemerkte, träumen sich wie die Bären durch den Winter. Andere versuchen sich von den unerreichbar reichen Touristen ein kleines Stück materiellen Prestiges abzuhandeln, was mir mitunter ziemlich auf die Nerven geht (dieses Straßenhändlerdasein scheint einfach so überhaupt nicht zur russischen Kultur dazuzugehören, daß es auf mich erniedrigend wirkt). Besonders die Jugend scheint nicht zu sehen, daß wirtschaftlicher Aufschwung, neben vielen anderen Gesichtspunkten, auch maßgeblich mit von arbeitswilligen Menschen abhängt. Da eine ordinäre Arbeitswilligkeit hier aber momentan noch gar nicht mit finanziellen Vorteilen verbunden ist, Lebenskünstlern Viele hier so rum. Es ist ja auch nur schwer einzusehen, einem “gesellschaftsförderlichem” Job für ca. 500 Rubel oder weniger nachzugehenm, wenn man an einem Wochenende in Polen, beim Verkauf sowjetischer Defizit-Produkte 5000 R. oder mehr machen kann. Ohne einen kaufkräftigen Absatzmarkt hier im Lande, scheint die Situation ausweglos. Inflation, Arbeitslosigkeit und Ausverkauf der russischen Produkte sind in vollem Gange. Und das Geld, das die Kleinspekulanten und Schmuggler machen, wandert zumeist wieder ins Ausland, weil es für Reisen und West-Produkte ausgegeben wird.

Die Leute mit normalen Berufen haben die schlechtesten Karten: Auch jetzt wohne ich in der verlassenen Wohnung einer Intiligenzia-Familie, die teilweise nach Israel ausgewandert ist. Das Zimmer starkt von Dreck und Büchern. Es wird von dem Vater der Ausgewanderten, einem Physiker für theoret. Ph., noch als Arbeitswohnung genutzt, weil in seiner Wohnung überhaupt kein Platz zum konzentriert arbeiten ist.

Was mir besonders fremd aufstößt, ist die Verachtung und Geringschätzung mit der die Normalverdiener hier behandelt werden. Es scheint überhaupt keine Solidarität unter diesen im selben Boot sitzenden Menschen zu geben; zumindest in der Öffentlichkeit nicht. The ordinary are looked upon – and are looking at each other – as if they have a contagious disease.

In anderen armen Ländern, wie Zypern oder Süditalien, ist das Umgangsverhältnis untereinander ein solidarischeres.

Diese Beobachtungen gelten nur für die das Straßenbild in den Tourismuszentren prägenden Händler, sowie die in öffentlichen Machtpositionen sitzenden Spießer (Hotels, Taxi…).

Ausnahmen hierzu habe ich selbstredend täglich gesehen und einige auch kennengelernt:

– gestern verloren Sascha und ich einander irgendwo beim Arbat und so tollte ich nicht unglücklich vom Berufspessimismus meines treuen Weggefährten für eine Weile befreit zu sein, alleine durch die Straßen. In einem beim letzten Besuch in Moskau noch als herausragend angenehm empfundenen Cafè, das hart nachgelassen hatte, nahm ich etwas Zuckergebäck und Tee zu mir, als ein Clochard eintrat.

Ein großgewachsener, schlanker Mann, mit einem langen Armeemantel vor der Kälte geschützt, dessen feine Gesichtszüge ein gepflegter Bart umgab. Seine Schönheit viel mir sofort auf und ich hatte das Bedürfnis ihn kennenzulernen. Sein Auftreten war mir besonders angenehm, durch eine ganz eigenwillige Schamhaftigkeit, eine ganz besondere Zurückhaltung und Bescheidenheit, die Penner auf dem Arbat sonst nicht die Spur ausmacht. Ich empfand ihn wohl besonders deshalb als sehr stolz und edel. So bettelte er auch nicht und nahm auch mit niemandem bittenden Blickkontakt auf, als er etwas Abseits von der Kasse seine Münzen zählte. Mit wohl leichter Schamröte im Gesicht trat ich so diskret ich konnte auf ihn zu und fragte, ob ich ihn nicht einladen dürfe.

Er freute sich offen und gar nicht unterwürfig und willigte ein. Ich gab ihm 25 Rubel, ging zurück an meinen Tisch und hoffte, daß er sich zu mir gesellen würde. Das tat er zunächst nicht, sondern ging, nachdem er mir noch einmal dankend zugenickt hatte, mit seinem Essen an einen anderen Tisch, ließ mir also die Möglichkeit ihn zu ignorieren.

Das tat ich natürlich nicht und so kam er auf ein Schwätzchen zu mir. Leider hatte er einen leichten Stotter und sprach sehr leise, so daß ich nur wenig verstand. Was ich verstand war, daß er einst Schauspieler war und jetzt auf dem Arbat lebte. Außerdem wollte allerlei seltsame Dinge von mir wissen und baute aus meinen Antworten einen unleserlichen Brief zusammen.

Wir trennten uns mit der Aussicht uns auf dem Arbat noch einmal wiederzusehen.

– Auf dem Weg zurück zu meiner Wohnung fragte ich einen jüngeren Mann nach dem Weg. Er hüllte sich erst eine Weile in verheißungsvolles Schweigen, kostete den Blickkontakt aus und verriet mir dann, daß er mich führen würde. Wir trafen auf dem Weg noch einen Freund von ihm. Da sich die Konversation freundlich und leicht gestaltete, ging ich noch auf einen Tschaj und etwas uschin mit zu ihm nach Hause. Die Wohnung, in der er alleine wohnte, war geschmackvoll eingerichtet – er legt offensichtlich Wert auf Stil.

Sein Freund war im Gegensatz zu seiner eher stillen und subtilen Art, verbindlich freundlich zu sein, laut und deutlich.

Für morgen Abend lud er mich und Sascha ein, das orthodoxe Neujahr mit ihm und ein paar Freunden zu feiern. Er wies mich darauf hin, das es ein Männerabend sein würde… . Wer weiß hier schon, was das heißen mag.

– Heute dann noch einen Radioingenieur kennengelernt, der mir beim Kauf eines Kaffees im staatlichen Stehrestaurant  behilflich war (die Kassiererinnen sind meist so unfreundlich, daß ein Ausländer mit schlechten Russischkenntnissen kaum eine Chance hat, sich durchzusetzen). Er wird mir, sofern ich hier über meine Kreditkarten an Valuta rankomme, 100 DM zu fairem Umtauschkurs wechseln. Im Moment bin ich arm wie ein unterprivilegierter Russe.

Auf der Rückfahrt in der Metro mir plötzlich vorgestellt, daß Bernd mir erzähle, Fee sei vergewaltigt worden. Irgendwie erfaßte mich die Phantasie so, daß mir mehrmals Tränen in die Augen traten. Es fiel mir schwer, mich selbst vom Täter zu trennen.

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