Petersburg, 12.10.1991: Fahrt & Ankunft in Leningrad

Im Zug schon Paradebeispiel von nicht zur Intelligenzija gehörendem Wissenschaftler kennengelernt. Ein “dirty old man” par excellence.

Sein allzu oft artikuliertes Interesse an meinen Bekannten und denen, die es im Zug wurden, beschränkte sich auf die Frage, ob sie – wenn es Frauen waren – “gut” seien. Er – ein widerwärtiger, stinkender Krüppel, körperlich weit über alles das hinaus, was man noch mit Frühling, und sei es der fünfte, bezeichnen könnte, der zudem aß, wie eine ausgehungerte Made im Erbrochenem und dem kaum eine Bitte zu peinlich zum Aussprechen war – nutzte dann auch eine längere Abteilabwesenheit von mir um seinen im Großen Vaterländischen Krieg zerschossenen Arm fummelnd unter die Decke einer gutmeinenden (was die Gallonen von Wodka angeht, die sie vom Alten aufgefordert bereitwillig stiftete) Mitreisenden zu schieben.

In ähnlicher Manier wartete ein Este lechzend geschlagene zwei Stunden vor meinem Nachbarabteil, trotzdem er sich von Wodka stinkend kaum auf den Beinen halten konnte. Als ich den drei alleine Reisenden jungen Russinnen, die ich in der Vornacht auf ihre Initiative hin kennengelernt hatte, etwas Wasser vorbeibringen wollte, und sich auf mein Klopfen hin niemand meldete, war ich die 5 min. etwas irritiert, die der böse Onkel brauchte, um mir die Worte “oni ne otkrivajut” entgegenzustammeln.

Nach einer weiteren halben Stunde hatte er sich dann aber doch Einlaß verschafft und ich verbrachte den kurzen Rest der Zugfahrt damit, den David Hasselhoff zu spielen, indem ich meinen, im mannhaften Schulterschluß vermeintlich neu gewonnenen Mitstreiter davon abhielt, das Abteil der Mädchen von innen zu verriegeln.

Das von Frauen Männern gegenübergebrachte Mißtrauen, daß sich vor allem in einer sehr einseitigen Interpretation von entgegengebrachtem oder erwidertem Interesse ausdrückt und hier vielerorts zu beobachten ist, ist nach diesem Auftakt für mich etwas besser nachzuvollziehen. Das Rollenverständniß von Ich bin der Schwanz, du bist der Rest klappt in der jungen Generation wohl nicht einmal mehr an der Oberfläche. Weibchenhaftes Dummgetue, das Männer angeblich so oft den Kerl erst raushängen läßt, habe ich  hier bisher nur in den Beschreibungen von Männern gefunden. Die drei Studentinnen z.B. waren schamhaft, ließen sich aber auf tieferschürfende Gespräche wohl vor allem deshalb nicht ein, weil sie meinem hehren Interesse mißtrauten.

Bella Michailowna holte mich unerwartet vom Bahnhof ab. Wie ich mich mit den nunmehr über 100kg Gepäck ohne sie gestaltet hätte, weiß ich nicht. Es wäre auf jeden Fall ein ziemlicher Stunt gewesen. Sie war großartig wie immer: Dezent und unauffällig, bis man sie dann tatsächlich braucht (sie machte sich z.B. erst bemerkbar, nachdem ich mit einem Glas Sekt von den Familien der Mädchen, mit denen ich zusammen ausgeladen hatte, verabschiedet worden bin).

Leningrad ist so leer von erotischen Blickfängen, wie beim letzten Mal. Nur daß nun auch noch die West-Touristen mit stimmigem modischen Schick ausfallen. Es ist eine wirkliche Erholung für die Sinnesorgane, ausgenommen vielleicht Nase und Ohren, denn in diesem Metier hält die Umweltverschmutzung Leningrads dem internationalen Vergleich lässig stand. Der größte Unterschied zu westlichen Umweltfaktoren ist, daß von den östlichen die wenigsten bewußt von Menschen inszeniert werden, wohingegen im Westen fast jeder wahrgenommene Reiz irgendeinem von Menschen ersonnenem Zweck dient, meistens dem Schaffen neuer Marktlücken.

Das, was hier wahrzunehmen ist, wühlt eher auf, als daß es einlullt: Das, was die Menschen hier in ihren Gesichtern durch den Alltag schleppen, sind die großen menschlichen Regungen, zumeist die dunklen; wie Resignation, Aggression, Fatalismus, Melancholie aber auch Milde, Wohlwollen und Verständnis für menschliche Schwächen.

Mein Blick bleibt hier oft auf Gesichtern haften, zumeist von nicht mehr jungen Männern oder Müttern. Auch das Leben selbst ist hier nicht auf dem Stand der West-Technik: Es zeichnet die Gesichter nicht, es schlägt sie mit Hammer und Meißel ein. Die hinterlassenen Furchen sind so tief wie das Leid, das im Bindestrich zwischen dem historischen Determinismus und der jeweiligen persönlichen Geschichte zu finden ist.

Kusnetsovskaya – Blick auf das Fenster und aus dem Fenster

Die Wohnung ist großartig, leider noch nicht fertig restauriert. Sie ist für russische Verhältnisse erstaunlich gut in Schuß, nur riecht es jetzt überall nach Farbe, deren Lösungsmittel aus der chemischen Waffenherstellung stammen könnten.

Es ist sehr schön alleine zu sein und dafür war es Wert, sich allen heutigen Einladungen entgegen zur Wehr zu setzen, was hier zur Sisyphusarbeit werden kann.

Den ersten Tag in Leningrad verbrachte ich mit B.M. zusammen außerhalb der Stadt, in einem naturnahen Erholungsgebiet, in dem viele bekanntere Leute ihre Datschen haben oder hatten – so auch Anna Achmatova. B.M. sagte mir, daß Sie früher oft in dem Gebiet gewesen sei, wenn ihre Seele schmerzte.

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