Petersburg, 24.10.1991: Jan ziert sich

Nun ja, die Chancen standen an sich verheißungsvolle 1 zu 2. Sie hat aber trotz meiner Warnung die Nivea-Gesichtscreme für die Zahnpasta gehalten und damit meine Zahnbürste und vermutlich auch ihr Gebiß eingesaut. Das Zeug hat in den Borsten der Bürste eine ähnliche Konsistenz wie Samenstränge im Haar – auch was die Hartnäckigkeit angeht.

Ihre Potenz scheint im Übrigen von der Tageszeit nicht besonders beeinflußt zu werden: Nachdem ich gestern Nacht den Kaffee sowie den Whiskey endlich soweit verarbeitet hatte, daß ich mich in die Horizontale auf meiner Globetrotter-Über-Matratze begeben konnte, klingelte Mama mich nochmal um vier Uhr aus dem Tiefschlaf, um nach dem Innendurchmesser meines defekten Dusch-Panzerschlauches zu fragen. Manchmal haben Menschen, die ich an sich für sehr bodenständig halte, besonders viel Sinn fürs Absurde. Nachdem ich dann gerade wieder auf Matratze gegangen war und ins süße Reich der tatsächlichen Träume eingestiegen, trat Irena gnadenlos in meinen Wahrnehmungsbereich, Frostbeulen vorgebend (obwohl sie meinen bis -80C geprüften Schlafsack hatte – und der ist von Globetrotter, die verkaufen keinen Schrott!). Da ich mich nicht als Ganzkörperwärmflasche zur Verfügung stellen wollte, reorganisierte ich ihr Bett, so daß sie zudem noch Mamas Wolldecke auf sich liegen hatte… mein Joe, muß das arme Kind geschwitzt haben, es war nämlich alles andere als kalt in meiner Wohnung (ich schlief, wie gesagt, auf dem Boden, mit einer kurzen Sowjet-Decke zugedeckt).

Und auch heute Morgen zog sie mich gleich beim Wecken wieder an ihre Untiefen heran. Ihre Sakristei hat sie auf jeden Fall schon längst säkularisiert.

Der erste Schnee fällt gerade!

Mit B.M. ist jetzt wieder alles auf der Reihe. Ich denke, daß wir ein sehr gutes, freundschaftliches Verhältniß haben werden. Die Konditionen sind ausgehandelt. Es ist mir gelungen, zu sagen, was zu sagen war, und sie hat es verstanden. Auch ist es ihr gelungen, eine Reihe kleiner – aber wichtiger – Mißverständnisse auszuräumen. Auch das große Mißverständniß ist bereinigt, d.h. ich habe keine Furcht mehr vor ihr und sie sieht mich nicht als den Mann, der ihre Weiblichkeit in die Freiheit führen wird.

Unsere Einsamkeit wird von ihr respektiert.

Da sie jetzt auch frei von Furcht zu mir kommen kann, schlug sie vor, mich jeden Dienstag und Donnerstag hier zu unterrichten. Ich halte sie für eine begabte – vielleicht begnadete Lehrerin. Und sie versteht viel, mehr als ich am Anfang glauben konnte, von den Grenzzonen zwischen Persönlichkeiten.

Wenn ich sie nicht ganz falsch verstanden habe, wollte sie in einem schwachen Moment mit mir tatsächlich ihre Insel säkularisieren.

Ich habe wieder alles im Griff. Alles im Griff haben heißt bei mir, andere Menschen wohltuend als Randerscheinungen in mein Leben einklinken zu können. Das ist es wohl, was es heißt.

Menschen berühren mich selten tief. Wie gesagt – mein einziger Zugang zum Mysterium ist die Angst.

Abends

Heute noch netten Nachmittag und Abend mit Svjetlana gehabt. Erinnerte mich irgendwie an die Tage mit Aleksander, weil wir die meiste Zeit irgendwelche frequentierbaren Etablissements suchten.

Ich habe ihr unglaublich die Ohren angefressen – sie versteht hervorragend deutsch, und es war mir ein besonderer Drang mal wieder ganze Sätze aus meiner Kehle quellen zu hören. Mir tat’s wohl und sie gab sich interessiert… ich beurteilte nur kurz die gesamte abendländische Literatur dieses Jahrhunderts im kritischen Vergleich zur Klassik. Mit Angabe und kurzem inhaltlichem Abriß von Beispielen.

Von ihr noch belustigt erfahren, daß der von mir ziemlich derb eingeschüchterte Este tatsächlich mit in ihr Abteil gehörte! er war am Vorabend spät noch zu ihnen gekommen… .

Bäckerei in Moskau, die australisches (!?!) Brot feilbot

Die Sache mit den Lebensmitteltalons kann noch lustig werden. Butter, Fleisch, Wodka und vieles Anderes gibt es auch jetzt schon nur auf Talons. Wenn ich von der Uni keine kriege, bleibt mir nur noch güldene Flüssignahrung. Ich bin mir noch nicht ganz meiner Meinung, ob ich mich sehr bemühen werde, Talons zu bekommen.

Ich fürchte, ich bin heute Abend eher müde.

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