Leningrad, 30.10.1991: Schlosser, BM, Tatarenwüste

Mich gerade entschieden, heute mal wieder ein bißchen mehr dem Image zu dienen, und so nach ungefähr vier warmen Hauptmahlzeiten heute über Tag, jetzt den Whisky gezückt und den Zahnstocher zwischen die Zähne geschoben.

Der Tag begann schrecklich, denn der angebliche Schlosser fand es trefflich, mich um 9.30 aus dem Bett zu klingeln. Wir verbrauchten dann nur 5h, drei Schlösser, einen Hammer-Kaffee, tausenddreiundvierzig Papirossies und ein paar ganz nette Gespräche, bis zwei der Schlösser fast installiert waren. Er will am Freitag um 19.00 nochmal kommen, und den Rest erledigen.

So ein interessanter Typ: Ozeanograph, der in vielen Erdteilen schon gewesen ist (als Seefahrer) und jetzt für den selbst für Rußland irrationalen Lohn von 170R angestellt ist, davon noch Frau und Kind mitversorgen müßte. Der derzeitige Durchschnittsverdienst liegt ca. bei 500R. So muß er schwarz also noch einiges hinzuverdienen. Nachdem alles Professionelle geregelt war, bot er seine Freundschaft an. Er erzählte mir auch, bei einer Tasse Kaffee, die er anstatt des Whiskies gerne annahm, nachdem er seinen Chef angerufen hatte um die Erlaubnis einzuholen, sein Schloß noch etwas länger zu reparieren, von einem interessanten Schwarzmarkt hier namens Sidnej.

Danach dann zur Uni gegangen, und Studentenvisum bis zum nächsten Oktober einschließlich ausgestellt bekommen. Außerdem mein Visum für Deutschland vom 10.12.91-01.01.92. Es wurde mir auch gesagt, daß ich die Trans-Sib-Tour durch sie auch ohne weiteres mir Rubeln machen könne.

Danach dann zu B.M. gegangen, und ein paar Stunden über ihre Freundin Svjetlana in Kiev, und Freunschaft allg. gesprochen. Das Thema Schuld wurde auch kurz angesprochen, als sie mir zu erklären suchte, warum die russische Seele eine so tragische sei und sich von dieser Tragik auch nicht befreien können wird: Sie erzählte mir, daß z.B. sie in einem hohen Schuldbewußtsein lebte, weil sie sich von der Stalin-Maschinerie, in der ihr eigener Vater umgekommen ist, hat blenden lassen. Sie hätte 3 Tage lang geweint, als Stalin gestorben ist und der Partei einen Brief geschrieben, indem sie sagte, daß ohne das Wissen, daß es die Partei gäbe, sie nicht mehr leben wolle, erzählte sie. Und auch nachdem dann zu Khrushtschofs Zeiten, die Verbrechen Stalins bekannt wurden, habe sie weiter in dem Apparat mitgearbeitet und sei jetzt sogar so weit, daß es ihr besser ginge, als den meisten anderen. In der Philharmonie hatte sie Dostojewski zitiert: “Es ist nicht möglich sein Glück auf das Unglück eines anderen zu bauen.”. Dieses, was allg. nicht nur möglich, sondern auch gewöhnlich ist, scheint ihr wirklich schwer zu fallen.

Dann ins Kino gegangen und einen sehr interessanten ital. Film gesehen – erinnerte mich etwas an Kafkas ‘Schloß’. Brachte mich auf die Idee, auch einmal etwas mysthisches zum Thema “Wirklichkeitsverlust” zu schreiben. Ein entlegender Grenzposten in einer Zeit der nicht-elektrischen Kommunikation bietet sich wegen Männerwelt und Extremsituation als Spielplatz an.

Bella Mikhailova und ihr Sohn Sasha Cherepenin

Bei B.M. zurück, dann weiter über Freundschaft, Männer und Frauen geredet. Sie erwähnte, daß sie nur ein paar Mal in ihrem Leben liebend mit einem Mann geschlafen hat. Bei einem dieser Male sei Sascha entstanden.

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