Leningrad, 22.10.1991: Irina und der grobmaschige Wollpullover

Nicht nur diese Beziehung.
Ich habe gerade gemerkt, wie dringend ich Sprache als Mittel brauche, um Beziehungen zu stimmen.

Shitkicker

Die Metros hier sind, wie gesagt, voll von Verfänglichem. Da ich heute noch dazu in „shit-kicker-Montur“ fuhr (Lederstiefel, Lederhose, Lederjacke, Schlägermütze), was ich für angebracht empfand, da ich mich entschieden hatte, heute den Uni-Scheiß zu erledigen, streiften mich vielfältige Blicke. Weil diese Blicke aber zum weit größten Teil von Pasolini-Fressen ausgehen – oder noch schlimmer: Von misslungenen Westimitationen mit dem “PTU-fick mich” Augenaufschlag – erwiderte ich keine.

Auf der Rückfahrt aber entging mir die körperbejaende Erscheinung einer angenehm rothaarig gefärbten Frau nicht. Wir wechselten in der Metro schon einige scheue Blicke und es kam sogar zu einem kurzen “is venitije!” – “nitschevo” Lächeln, als sie eine sachte Bremsaktion des Metroführers nutzte, um ihre feste Physiognomie gegen die meine zu drücken.

Es war irgendwo klar, daß sie wegen mir am Park Pobjedo ausstieg, und es gelang uns sogar das Unmögliche zu vollbringen, auf der endlosen Rolltreppe hintereinander zu stehen zu kommen. Dort fiel mir auf, daß sie unter ihrem, mich nur beim Hinsehen schon kratzendem, großmaschig aus grober Wolle gearbeiteten Pullover keine Unterwäsche trug. Da es nun angesichts ihrer eindeutig auffordernden Blicke schon an einen Euphemismus in Sachen Altersangabe gegrenzt hätte, nichts zu sagen, war es an der Zeit, höfliche Worte auszutauschen um Ungezogenheiten zu vermeiden.

Ich erklärte ihr also, daß ich nichts sagen würde weil ich kein Russisch spräche, und so kamen wir ins Gespräch.

Über eine Eisdiele, den Wunsch zwecks Abendgestaltung zu telefonieren, meinem bißchen Gesamtvokabular, einem Kaffee, einer der beiden zuvor erstandenen Flaschen GLENLIVET! und verdammt viel Wohlwollen, kam es dann natürlich doch zu einem höflichen Beisammensein auf zweien der drei Kanapees in meiner Wohnung.

Meine Beziehung zu ihr gestaltete sich von Anfang an fast ausschließlich um  Gerüche: Bevor ich sie überhaupt sah, nahm mich ein Geruch von Haar ein, den ich vorher nur in Australien gerochen hatte, und der mich irritierend an Nicky erinnerte. Es waren, wie sich später herausstellte, ihre seit längerem nicht gewaschenen Haare.

Dieser Duft betörte mich, bis er von einem anderen, der mit den Höflichkeiten einherging, überlagert wurde. Zunächst allerdings wechselte ich noch meine Socken, weil ich fälschlicher Weise davon ausging, daß sie das Zimmer mit einem Hauch von Defizit-Milchprodukten erfüllten; überhaupt schienen wir ähnliche Duftnoten in mehreren Bereichen zu haben. So glich auch ihr säuerlicher Mundgeruch dem meinen, wenn ich mit leerem Magen lustvoll atme. Der sich mit ihr liegend durchsetzende Geruch allerdings, war ein Geruch nach alter Lust und Periode. Erstaunlicherweise ließ er bei mir alles andere als die Lust schwinden.

Irina

Sie war sich ihres ästhetischen Umstandes aber wohl zu bewußt, als daß sie sich mir ganz zumuten wollte – vielleicht nahm sie meine Absage an vollkommene Höflichkeit aber auch ernst. Sie scheint mir durchaus ein besonderer Mensch zu sein, mit Blick fürs Wesentliche, vielleicht sogar, was ihre eigenen Vorteile angeht.

Den Vormittag verbrachte ich damit, zur Uni zu laufen, und zu erfahren, daß eine Visumsverlängerung mit eingeschlossener Änderung, natürlich nur für reguläre, heftig zahlende Studenten möglich sei. Da dies aber Rußland ist, und die Menschen zumeist auch in der Bürokratie Menschen und keine Automaten sind, kam auf meine Frage – mit aufgerissenen Augen des Entsetzens artikuliert “eto bes alternativa?” ein “Kommen Sie nächsten Freitag noch einmal wieder”.  Obige Frage scheinen Russen nicht gerne zu bejaen.

Ansonsten Kodaklabor in der Nähe des Njevskis entdeckt, zwei Flaschen Glenlivet gekauft, geniales staatliches Restaurant mit französischer Edit Piaf Musik gefunden, Witali leider nicht photografiert.

Außerdem mal wieder festgestellt, daß all die horrorgeschichten über Hooligans, die anders Angezogenen schon alleine deshalb vermöbeln, ausrauben und – in New York zumindest – vergewaltigen, spießiger Blödsinn geprägt von Kenntnißfreiheit ist. Ira (oder Irina) hat mich trotz meiner Leder-Kluft für einen Russen gehalten und die Blicke, die mich treffen sind meist interessiert und amüsiert. Auf die Fresse kriegt man zwar auch hier, wenn man will, aber aus anderen Gründen. Wie halt überall – von den Ausnahmen, dort wo Menschen wirklich nichts mehr zu verlieren haben, abgesehen. Aber meist – und hier besonders – haben Menschen ‘ne Menge zu verlieren. Ihren Glauben an das Gute, an sich selbst als mehr als ein Tier, Werte wie Gastfreundschaft, und natürlich riskieren sie, wenn sie einen Typen wie mich angreifen, ihr leibliches Wohlergehen.

Dann hatte ich letzte Nacht einen mich wärmend des Träumens wild amüsierenden Traum. Ich wachte lachend auf.

Irgendwie wohnte ich in einem mehrstöckigen Haus mit Garten. Nun passierten eine ganze Menge Dinge, die alle etwas mit mir und mit ziemlich komischen Sexualakten zu tun hatten. Es war alles so easy wie Lukes Boutique. Motiviert war der Traum wohl von meiner Entdeckung in der Vornacht, daß das periodisch-rhythmische Quietschen in der Decke nicht von Ratten, sondern kopulierenden Pärchen herrührt.

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