Leningrad, 20.10.1991: esoterische Pfadfinderspiele

Gestern einen interessanten Tag mit Walerij bei Filmarbeiten zu einem Dokumentarfilm über einen russ. orth. Heiler verbracht:

Ich traf mich um 12.00 mit dem Team (ca. 20 Leute) vor dem Filmstudio am Krjukovkanal, das nach Aussagen Aleksanders das kleinste seiner Art in der SU sei, um mit einem Intourist-Bus in das ca. 50km entfernt liegende Dorf an der Njva zu fahren. Da W. als Regieführer mit der nur mit Hindernissen klappenden Organisation genug zu tun hatte, kümmerte ich mich um sein energiegeladenes Wunderkind Jana. Das war anstrengend, hat aber auch Spaß gemacht und meinen Russisch-Kenntnissen einiges gebracht (sie nimmt jetzt schon Schauspielunterricht und so amüsierten wir uns dabei, bestimmte Stimmungslagen zu simulieren und sie dann zu benennen – als ich später im Wörterbuch nachschaute, stellte sich heraus, daß alle Wörter von mir durch ihre Darstellung erkannt worden waren! Es waren Wörter wie: Launisch, Trauer, ausgelassene Freude, Freude, Wut.).

Nachdem wir dann mit einiger Verspätung und den wütenden Gesichtern der gewartet Habenden (der Strom für die Trolljebusse war mal wieder ausgefallen) alle eingesammelt hatten, kamen wir so gegen 14.00 bei dem Multitalent, mit Namen Rosonelow Iwanow, an.

Ein etwas gedrungender, kräftiger Typ, so um die 55, mit grauem Bart und wenigen weißen Haaren. Erdig, kraftvoll, waches Gesicht und listige Augen. Frohsinn ausstrahlendes Auftreten. Er kannte die Crew offenbar und begrüßte jeden mit Umarmungen, einige auch mit Küssen (so auch W.). Neben seiner Tätigkeit als Heiler malt er auch und schreibt Gedichte, die der narodnikamy iskustwu verwandt sind, wie ich zunächst von W. und später auch von ihm selbst erfuhr.

Das Haus des Heilers

Wir luden dann Holz ein, um einen – so W. – Scheiterhaufen / po ruskihj: kastjor zu errichten. Ich war mir zunächt nicht ganz sicher, wie orthodox der Hudorschnik sei [Unsinn: Hexenverbrennungen hat es in der Vergangenheit der russ.orth. Kirche nie oder so gut wie nicht gegeben], stellte dann aber fest, daß ein “bonfire” gemeint war, das auf einer Anhöhe über der Uferböschung der Njeva entzündet wurde die wir nach einer abenteuerlichen Busfahrt durch die Pampe (es hatte, wie immer vorher geregnet) erreichten.

Dort ging dann der Punk ab, in dem ich mich zunächst selbst involviert sah:

Vibrationsheilung

Der Meister forderte uns auf, einen Kreis zu bilden, wir faßten uns auf sein Geheiß hin an den Händen und er sprach ein Gebet. Dann ließen wir uns wieder los und er begann mit seiner Heilmethode, die äußerlich an ein Zwischending aus Kindergeburtstagsspielen und Hippi-Naturspektakel anmutet. Wir begannen unter seiner Anleitung zunächst mit Atemübungen, wobei der Atem in kurzen, harten Zügen (schnüffelnd) eingesogen wird. Darauf wurden gemeinsam Vokale und Vokalkombinationen gesungen, teilweise mit konsonantischen, harten Ausklängen (o, o-a-ng) in verschiedenen Körperposen, die sich manchmal auch während der Gesänge änderten. Es war ein eindrucksvolles Klangerlebnis. Nachdem, was ich von dem Meister selbst und früher schon von W. erfahren hatte, geht es darum, das Körperteil, auf das man sich konzentriert, als Resonanzkörper zu benutzen und so immer neue Schwingungen zu erzeugen. Das konnte ich bei mir nicht nachvollziehen, aber die Klänge waren trotzdem erstaunlich. Trotzdem von keinem der Beteiligten eine feierliche oder etwa dramatische Stimmung angestrebt wurde und die Atmosphäre eher heiter war, hatten die Klänge selbst, wenn sie erzeugt wurden (die eigenen im Zusammenhang mit den anderen, aber auch separat) eine mystische Dimension. Solange ich Teil des Bannkreises war, erinnerten sie mich stark an alte georgische Kirchenchöre.

Ich verließ den Kreis dann aber doch, um Photos zu machen, allerdings auch, weil mir nicht ganz wohl bei der Sache war – nicht nur weil ich seinen Anweisungen nicht immer folgen konnte.

Ich schloß mich dem Kamerateam an und beobachtete von außen, was einen komplett anderen Eindruck vermittelte. Da war es dann wirklich nur noch der etwas peinliche Versuch Erwachsener, die Ausgelassenheit eines Kindergeburtstages zu imitieren.

Zu guter Letzt sprangen Meister und ein Freak vom Team noch zweimal (beim ersten Mal war die Kamera nicht zugegen) in die eiskalte Njeva. Für Rußland bemerkenswert ungeniert trockneten sie sich danach nackt vor Kamera und Photoapparat am Feuer.

Die Kinder spackten auch bei den Filmarbeiten ungehindert, wie sie wollten, herum.

Auf dem Heimweg hielten wir (W. für mich) den Bus noch eine Weile auf, weil mir der Künstler Teile seines Werks zeigen wollte: Auf den ersten Blick würde ich sagen recht eigenwillige, religiöse Bilder, einige der Porträts ikonenartig. Nach ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt durchaus ansehnlich. Kein Kitsch.

Natürlich wurde ich wieder eingeladen, und es wurden uns ein paar tausend leckere Pfannkuchen mitgegeben.

Heute vor allem lange geschlafen, Russisch gemacht und Tagebuch geschrieben.

Heute Abend feiert W. Frau (Irina) Geburtstag.

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