Leningrad, 18.10.1991: Valeriis Familie

– Fee rief gestern an und mag mich wohl ganz gerne.

Ansonsten zu Hause gewesen und Korrespondenz gemacht (Susan+B.M.).

– Heute ‘nen blödes Fernet Branca Photo von mir für Fee gemacht, Walerij besucht und Kinderkram vorbeigebracht. Etwas eingekauft.

Der Familienverband obiger Familie scheint ziemlich genial zu sein. Obwohl die hohe Anzahl der Sprößlinge bösen Zungen zufolge vor allem etwas mit der katholischen Religiosität zu tun hat, habe ich noch nie sich so frei bewegende Kinder gesehen. Sie können so ziemlich alles ausprobieren, ob es nun kaputt geht (die Gitarre Wal.) oder sie sich dabei etwas wehtun. Trotz des etwas verklemmten Eindrucks, den beide Elternteile auf mich machen, sind die drei Kinder, die ich bisher kennen lernte (1J., 2J. und 6J.) völlig ausgelassen und harmonisch untereinander. Besonders erstaunt war ich über den intensiven Körperkontakt, den die beiden älteren fast sofort mit mir, der ich ihre Sprache noch nicht einmal spreche, aufgenommen haben. Wenn ich nicht völlig derangiert bin in meinen Rezeptionen, waren besonders die Berührungen der Ältesten sehr innig.

Auch ist es seltsam, daß es zwischen dem 1jährigen und dem 2jährigen Kind anscheinend keine Eifersucht oder Boswillen gibt: Als der Kleinste auf den Bürostuhl pinkelte, während Walerij mit mir ungerührt Tischtennis auf einem winzigen Eßzimmertisch weiterspielte, ging der andere Zwerg nach einer kurzen Weile auf die Bitte des Vaters hin in die Küche und wischte selbst Bruder, Stuhl und Boden trocken.

Auf der Metro-Fahrt dorthin, beobachtete ich schon eine andere sehr schöne Familien-Begebenheit:

Eine Tochter, ca. 12 Jahre alt, die lebhaft mit ihrer Mutter redete und während des offensichtlich wohlwollenden Gespräches beide plötzlich und einnehmend natürlich die Nasen aneinander rieben. Ich freute mich sehr und dachte sofort an meine Schildkröten.

Auf der Rückfahrt kam ein stinkendes, fettes Wrack herein, dessen optischer Zustand sich zu beschreiben lohnt: Ca. 20 Jahre alte Soviet-Klamotten, die auch ungefähr ebenso lange nicht gewaschen oder geflickt worden waren. Die haarige, nur vom Ausschlag manchmal rot durchsetzte, weiße Haut, sah unter dem zerschlissenem Rollkragen hervor, der seine enorme Plauze sowieso kaum verbarg. Ansonsten aufgeweichtes Bulldoggengesicht, in dem über dem rechten Auge ein Hagelkorn in der Größe des Auges selbst herausquoll; dann ein riesiges, in Zeitungspapier eingewickeltes, angefressenes Gebilde unter dem Arm.

An sich also eine ganz normale Metro-Gestalt, die sich von den vielen anderen seines Kalibers nur darin unterschied, daß sein Gesicht von oben nach unten neben allen möglichen anderen Resignationsformen auch in aggressivem Selbstmitleid zerfloß.

Als dann zwei ihm gegenübersitzende Turteltäubchen doch auf sein Stöhnen und Wimmern hin reagierten, indem sie auf die unglaubliche Wurst lächelnd zeigten (man zeigt hier, will man keinen Ärger haben, auf Nichts und Niemanden), entschied er sich doch – wohl angesichts der beträchtlichen Masse, die er hätte bewegen müssen – gegen’s aufstehen und Ärger machen und stöhnte nur etwas aggressiver weiter, während er dem Mädchen lange und versunken zwischen die Beine starrte, an all die Mösen denkend, von denen er in seiner Vergangenheit geträumt hatte.

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