Leningrad, 14.10.1991: Lessons in love

OK, jetzt habe ich es ja doch noch geschafft: Nach zwei langen Tagen und Nächten in Leningrad packt mich mein Lieblingsthema doch noch – I’m out there!. Nicht etwa nur in der beschaulichen Distanz öffentlicher Betrachtung, nein, ganz privat und persönlich; und voll frontal.

Männer, Frauen, Kraft, Sex, Leben, Tod, Angst, abgekürzt und mißverständlich L.I.E.B.E. genannt.

Angefangen hat alles wohl damit, daß ich die letzten paar zweiundzwanzig Jahre damit beschäftigt war, Schulden anzuhäufen, indem ich mir Menschen fortwährend wohl tun ließ. Bisher wurden selten Rückzahlungen verlangt, noch seltener in Devisen.

Heute allerdings verlangte die Kuckucksfrau die volle Summe mit Zinsen und Zinseszinsen für Unaufmerksamkeit.

Der Tag fing damit an, daß ich mich noch etwas bettschwer um zehn Uhr Morgens ans klingelnde Telefon wälzte, um von Bella Michailovna zu erfahren, daß ich mich schon eine halbe Stunde später, zwecks notwendiger Registrierung mit ihr irgendwo in der Pampa treffen müsse. Die Registrierung schien für mich die letzte Hürde vor einem ruhigen Einstieg hier zu sein, weil ich ja mit einem Studentenvisum eingereist bin, aber nicht an der genannten Universität studieren werde. Da die Leningrader Uni so schlecht wie geldgeil ist, sah ich meine einzige Chance darin, mich nicht an der Uni registrieren zu lassen, sondern in dem Rajon, indem ich angeblich wohnen würde (bei B.M.). Wir brauchten kaum ein paar Stunden um herauszufinden, daß die Registriegung nur an der Uni selbst stattfinden kann.

Das brachte meinem Golowa vor allen Dingen die Tatsache zu Bewußtsein, daß Mr. Filipow, der Typ von dem ich im August die offizielle Einladung erhalten hatte, schon seit September sehnsüchtig auf meine Devisen und mich wartete. Ich sah mich also schon wieder mit High Tech (die darf man nämlich, wurde sie an der Grenze deklariert, bei der Ausreise nicht zurücklassen) nach Berlin fahren, und B.M.’s Privateinladung abholen.

Nachdem wir erst einmal noch von ein paar hundert unwissenden Leuten zum Bezirksamt zurückgeschickt wurden, von dort wieder zur Uni, und Mr Filipov im Urlaub war, gelang es uns doch Dank B.M.’s einnehmendem und vertrauenswürdigem Auftreten und meiner eindrucksvollen Erscheinung kombiniert mit dem ich bin zwar sehr nett aber nicht besonders verständig – Lächeln registriert zu werden und sogar noch einen offiziellen Studentenausweis zu bekommen. Die Mädchen waren – wie immer – sehr hilfsbereit, obwohl sie von der immer etwas scharf nach Körpersekreten riechenden B.M. noch zum Dank an ihren großen Busen gezogen wurden.

[Eben rief grade irgendein Freak aus Südafrika an. Dem authentischen Akzent und der schlechten Verbindung nach zu urteilen, war es wohl wirklich Südafrika und nicht der den Gerüchten und Berichten nach noch sehr aktive KGB. Trotzdem er sich verwählt hatte, wollte er, wohl auch etwas überrascht davon, einen englischsprechenden Deutschen hier in Leningrad an die Strippe bekommen zu haben, allerlei wissen.]

Den Universitätskomplex verlassend, bedankte ich mich bei B.M., woraufhin sie wie im Scherz erwiderte, eine Phrase sei dafür nicht genug. Ich dann, auch nur noch wie im Scherz, “Schto eschtscho?”, sie: “Ja podumaju”.

Es war an dem heutigen Tag nicht das erste Mal, daß sie eine Gegenleistung für ihre vielen Hilfeleistungen andeutete. Ich hatte auch schon manchmal mit dem Gedanken gespielt, daß B.M., die die Schlüsselfigur für die Leichtigkeit der Organisation meines Rußlandaufenthaltes geworden war, mich als Westkontakt nutzbar machen würde. Ich fand das normal und konnte mich bei ihr auf einige Direktheit in der Veräußerung ihrer Bedürfnisse verlassen.

Somit wartete ich geduldig ab.

Sie erwähnte auf dem Ulissus-Artigen Nach-Hause-Weg mit bis zum Erbrechen vollen, zu aggressivem Körperkontakt mit schwitzenden Russen zwingenden öffentlichen Verkehrsmitteln – die leider reziprok zu den Benzinpreisen zu Verfügung stehen- beiläufig, daß sie mir einen Brief geschrieben habe, indem sie Antworten auf die am Vortag von ihr aufgeworfenen Fragen gefunden hätte. In diesem Gespräch hatte Sie mir vor allem von dem Seelenleid erzählt, daß für sie aus der (Un-) Tugend erwüchse, stark zu sein, sich selbst zum vermeintlichem Wohle Anderer zurückzunehmen. Ihr Auftritt war kraftvoll und eindrucksvoll wie immer. Sie verblieb allerdings mit der Aussage, daß sie nicht wisse, wie Freiheit ihr schmeckt und ob es für sie überhaupt möglich sein wird, frei zu sein.

Verdammte Russen. Ich hatte ja keine Ahnung daß sie damit Bekenntnis zur Weiblichkeit und zu “Frau sein” meinte. Die Bedeutung der hier benutzten Wörter lernt man am besten kennen, wenn man sich ein viktorianisches Wörterbuch russisch-englisch zulegt.

Zuhause angekommen umfing sie mich – wie immer, und von mir auf normale russische Gastreundschaftserkrankung zurückgeführt – mit allen Zuvorkommnissen des Alltags, die Mann von Frau, ransche, erwarten kann. Ich hatte schon längst aufgegeben, mich gegen von ihr durchgeführten exklusiven Abwasch, Essens-Zubereitung, Auf- und Abtragen, Telephonate ausführen… zu wehren und schob es auf Mentalitätsunterschiede.

Als ich mich dann – zum ersten Mal erfolgreich – gegen eine erneute, fleischhaltige Mahlzeit zur Wehr setzte, gab sie mir ihren Brief zu lesen.

Die heftige Liebeserklärung einer alternden Frau, voller unbedarfter Erotik. Sich selbst, das ist den eigenen Bedürfnissen, klar bewußt, im Geiste agil, im Herzen jung… sehr jung.

Sie saß die Zeit, die ich den Brief, mit dem konkreten Bedürfnis die Fassung ganz zu wahren, las, mit rotem Kopf neben mir. Das anschließende Gespräch war ebenso klar und direkt wie der (halb auf russisch, halb auf “sort-of-english”) geschriebene Brief.

Die Notwendigkeit sehr einfacher Sprache zwingt natürlich auch zu peinlicher Klarheit, aber ich glaube daß dies eine natürliche Fähigkeit B.M.’s ist.

Mir viel außer Ich bin homo zunächst nur sehr wenig ein, und mir wurde erst langsam klar, daß dort eine Frau und kein altes ungefährliches Mütterchen vor mir saß. Eine Frau! Mit einem Haufen Seele voll von Lust, Leid, Liebe, Begierde, Hass und wahrscheinlich feuchter Scham. Ich roch unwillkürlich an meinen Fingern und assoziierte sehr konkret Fisch.

Natürlich will sie nur umsorgende (Ehe-) Frau für mich sein, die durch mich nichts weiter als Zärtlichkeit und Zärtlichkeiten (wörtlich: endearments “=Liebkosungen”) kennen lernen möchte. Allerdings erwähnte sie auch etwas größenwahnsinnig und von Schwanzloyalität verdorben, daß sie, jetzt da sie frei sei, mich wenn sie wolle, haben könnte (“mit mir seien könnte”). Männer, die eine Frau nicht haben kann, gäbe es nur im Kino, sagte sie. Ich versuchte gegenzuschocken und schlug etwas hilflos meine Homosexualität vor (hier an sich noch Tabu genug, um zu schocken), worauf hin sie ihren Griff etwas lockerte, und mich wissen ließ, daß sie keinen sexuellen Kontakt antizipiere.

Ich hatte einen erstaunlichen Brechreiz, als ich ihr Haus verließ, war allerdings auch angenehm gespannt auf meine Reaktion, die kommenden Tage, den wartenden Knockando, die Schreibmaschine.

Und mir ist beängstigend klar, daß ihr Verhalten vollkommen richtig ist. Ich habe ihr nichts vorzuwerfen – verstehe Susan dadurch vielleicht etwas besser.

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