Leningrad, 04.11.1991: Militärkrankenhaus

Nachträge:

– Mehrere Menschen behaupteten in der Vergangenheit, daß ich Schmerzen durch meine Hände nehmen könnte. So die Svjeta, wie auch Irina. Ich habe das gestern Nacht bei mir versucht, bin mit dem Resultat aber nicht ganz zufrieden. Kann sein, daß ich etwas gespürt habe.

– Die Straßen sind hier in einer ganz besonderen Konstitution und motivieren tatsächlich dazu, Rußland ernst zu nehmen. Neben der an eine Teststrecke für die Paris-Dakar-Ralley erinnernde Oberflächen-beschaffenheit des gelegentlich noch geschlossen liegenden Asphalts, den meistens berechenbaren, dennoch tückisch reifenaufreißend herausragenden Straßenbahnschienen, den ständig variierenden Unterspülungen, die das Fahren und gehen spannender machen, den vielen nicht gekennzeichneten und nie zuende geführten Bauarbeiten, faszinieren mich am meisten die immer wieder fehlenden Gullideckel. Diese Gullideckel haben die Größe eines kleinen LKW-Rades, so daß sie einem Menschen genau so wie einem Autoreifen bequem Durchgang lassen. Ich denke, das dieses Faktum, besonders in den vielen unbeleuchteten Hinterhöfen, die hohe Kindersterblichkeit mit-begründet. Mich hätte es auch schon einmal fast geschluckt – Russen sind allerdings auf diesen Dschungel besser eingespielt und bisher haben alle von mir beobachteten Autofahrer die so verminten Straßen, ohne Räder zu lassen, gemeistert.

Die Ethnologin II erzählte ähnlich interessante Geschichten von Kairo, wo nach ihren Aussagen relativ regelmäßig – in den Zeitungen verfolgbar – Passanten in den Därmen der Stadt durch nicht vorhandene Gullideckel  verschwinden, um dann ein paar Wochen später an irgendeinen Nilstrand wiedergekäut zu werden. So soll es auch dem weiblichen Part eines Pärchens ergangen sein, während sie mit ihrer männl. Begleitung das Abenteuer einer Hauptstraßenüberquerung auf sich genommen hatte.

Heute erstaunlichen Vormittag im Krankenhaus gehabt.

Ein älterer Freund B.M. holte mich so gegen 9.45min 23sec bei mir zu Hause ab. Wir sammelten dann old B.M. ein und fuhren in das vielgerühmte Militärkrankenhaus, das zu den besten der S.U. zählen soll.

Von außen: Normale Verfallserscheinungen vergangender Größe. Das Fojer, das gleichzeitig Flur und Wartezimmer war: alt, sauber, stuckverziert und eiskalt. Selbst das Personal im angrenzenden Umkleide/Emfangsraum, dessen Tür immer offen stand, wärmten sich die Hände regelmäßig an einer Elektroheizung. Alles irgendwie sehr liebenswerte Nachkriegsathmosphäre (die ich natürlich nur aus Filmen und Büchern kenne).

Wir warteten dann eine Weile und B.M. versuchte ohne ihre verlorene Stimme, Konversation zu machen. Sie pries das Krankenhaus wohl nicht zuletzt deshalb so, weil sie mich gerne hier behandelt gesehen hätte.

Irgendwann kam dann der Arzt – ihr angeblicher Freund – auf den wir gewartet hatten, von draußen ohne von uns Notiz nehmend herein, ging an uns vorrüber ins Umkleidezimmer. Ein ca. 60jähriger, etwas untersetzter Mann, dem man militärische Disziplin ansieht. B.M. war ganz aus dem Häuschen ob der mit ihr befreundeten Anmut und erwischte ihn dann auch voll frontal, als er in den Eingeweiden des Krankenhauses verschwinden wollte. Ich glaubte es nicht: Sich schnurstracks angesteuert sehen, war es dem armen Mamm gerade noch möglich abweisend “nu u schto?” zu formulieren (er erkannte sie offensichtlich nicht sogleich), hatte aber gleich darauf einnen fetten feuchten Schmatzer in der linken Mundwinkelgegend hängen. Er war für alle Anwesenden leicht ersichtlich äußerst angenerft; ausgenommen B.M., die ohne ein Wort zu sagen glücklich grinsend kehrt machte, und zu dem leicht erröteten Jan zurückkehrte (I’d rather see this on TV). Der Doc kam dann auch, war zu mir angenehm professionell freundlich, zu B.M. in dem hoffnungslosem Versuch abzuschotten, ebenso prof. barsch. Er setzte sich dann aber tatsächlich doch durch mit seinem Anliegen, mich alleine Untersuchen zu dürfen. Ich stellte relativ schnell fest, daß er Urologe war, was ihn aber nicht davon abhielt, mit seinem herbeigerufenen Kumpel, einem jungen Physiologen, zu fachsimpeln. Als wir in das Krankenhaus selbst gingen, zog mir der alte Arzt noch väterlich den Reißverschluß von Jensens Sweat-Shirt zu, mit der Bemerkung, daß dies hier ein diszipliniertes Militärkrankenhaus sei (ich beobachtete tatsächlich auch, wie Ärzte eintretende Militärs militärisch grüßten).

Ich bekam immer mehr Lust auf das Abenteuer.

Beides waren Ärzte vom alten Schlage: In ihren Umgangsformen (auch mit meinem Bein) eher rustikal, aber einnehmen ernsthaft bei der Sache. Soweit ich weiß, war zumindest der Ältere auch in Afghanistan.

Sie tippten beide auf Meniskus, meinten aber auch, daß eine Kniespiegelung (Rektoskopie) gemacht werden müsse. Sie boten mir an, das bei ihnen (umsonst und offiziell) machen zu lassen. Da ich aber eine anschließende Operation befürchte, und nicht einschätzen kann, wie bei Komplikationen (die im Westen genauso passieren können) meine Krankenversicherung reagiert, wenn ich mich hier verhundsen lasse, ziehe ich eine mir unliebe Unterbrechung meines Aufenthaltes hier vor.

B.M. versucht jetzt gerade, mir ein Flugticket zu besorgen. Als ich nach Hause kam, rief gleich der Arzt an (welcher weiß ich nicht, ich glaube der Ältere) und erkundigte sich nach meinem Befinden genauso, wie er sein Wohlgefallen über unser Treffen ausdrückte. Wie er meine Nummer herausbekommen hat, weiß ich nicht.

Er hatte das ihm von B.M. angebotene Geld, natürlich auch nur genervt abgelehnt. In ihrem anschließenden Umarmungsanfall gefangen, sah er mich auch nur hilflos an, genauso wie ich hilflos die Achseln zuckend zurücksah.

B.M. rief gerade an und informierte mich, daß sie ein Ticket für den 9’ten November bekommen hätte. Ich hatte mit schlimmeren Wartezeiten gerechnet.

B.M. und auch andere russische Bekannte von mir vor ihr, erwähnte, daß Rußland ein Land sei, indem die Armut und die Tragik des Alltags mit der Mentalität der Menschen einher geht und kein aktuelles Produkt des kalten Krieges sei. “Rußland war immer arm und wird es auch immer bleiben”.

Die Zoni-Bekannte, die in meine Köllner Wohnung reinwollte, meinte aus gut-deutscher Sicht: “Gibst du einem Ost-Deutschen ein gutes Gehalt und stellst ihm in Aussicht, gefeuert zu werden, wenn er nicht vernünftig arbeitet, dann hat es mit dem Pfusch bald ein Ende. Bei einem Russen wäre das wahrscheinlich nicht so. Die setzen andere Prioritäten.” (Sie hatte ein Jahr in Rußland gelebt, viel Zeit davon mit einem Russen zusammen)

So reden viele hier. Meine Nachbarn nennen die Russen “faul”, der Meister Aleksej “arbeitsunwillig” und B.M. spricht von einer Seele, die zur materiellen Armut verdammt ist.

Und das erscheint mir zunächst seltsam. Rußland steht ohne Zweifel in der Tradition des Abendlandes. Es ist kulturgeschichtlich  vor allem ein Teil Europas, nicht erst seit Peter dem Großen und seinem West-Tick. Seit der Kiever Russ und den wichtigen Kontakten zum byzantinischen Reich ist russische Geschichte mit europäische Geschichte. Die gedankliche Mauer zwischen Westeuropa und Osteuropa ist eine Erfindung neuzeitlichem Nationalismus. Mit der Heirat zwischen Svjetuslav (Igor?) und der byzantinischen Purpurgeborenen und der anschließenden Christianisierung ist Rußland Teil des Orbis Christi, also aufgenommen gewesen in die mittelalterliche christliche Völkergemeinschaft, die die Geschicke dieser Welt von da an maßgeblich beinflussen sollte.

Und trotz dieser gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Bildung, vieler gemeinsamer Werte, eines gleichen Weltbildes, gleicher intellektueller Fähigkeiten ist es doch eine ganz andere Kultur.

Ich kann Lenins Fehlprognose nur zu gut verstehen, in der er annahm, daß Rußland eher am Ende der Weltrevolution stehen werde und Deutschland den Anfang mache. Kapitalismus erscheint hier noch als genetisch nicht vorgegeben. Natürlich sind die Menschen auch hier habgierig, gerade auch angesichts des Grabens der zwischen dem materiellen Lebensstandard im Westen klafft, beziehungsweise die Preisunterschiede zwischen dem Dr. Ötker Devisenkaffee und einem staatlichen, indem es aber nie nichts gibt. Und auch Meister A. ist fast tot und halb blind geschlagen worden, von irgendwelchen Mafiosos, weil er ein gutlaufendes Geschäft hatte. Und in der Spätphase der Zarenherrschaft sind in Rekordjahren über 2000 Menschen politischen Anschlägen der zumeist jugendlichen Sozialrevolutionären zum Opfer gefallen. An menschlichen Tugenden alleine, scheint diese Wertverschiebung zum Westen nicht zu liegen.

Vielleicht spielt das fatalistische in der russischen Kultur eine große Rolle; die sich durch die Geschichte ziehende offenkundige Machtlosigkeit des Volkes gegenüber den Herrschenden lege das nahe. Auch die orthodoxe Religiosität, die Menschen und Menschlichem gegenüber einen anderen Zugang als den katholisch/reformiert westlich materialistischen hat, könnte eine Rolle spielen.

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