Leningrad, 02.11.1991: Nehmen und Jammern; Sashas abgeätzter Finger

Heute den Tag damit bestritten, mein verfluchtes Bein zu schonen und mich von old odd B.M. bedienen zu lassen. Weiter hat mein Nachbar, dem jetzt ja schon die große Gunst auch noch die Schlösser in meine Tür einzubauen von dem konkurrenzfähig aggressiv hilfsbereiten Meister Alexej vereitelt wurde, es übernommen, wenigstens die letzten Verschönerungsarbeiten (ausputzen und streichen) zu übernehmen.

Ich traue dem Frieden ganz und gar nicht, habe aber jetzt mit abgeschossenem Bein noch weniger Möglichkeiten das Nehmen zu reduzieren. Diese Art des gegenseitigen Helfens ist hier zudem recht weit verbreitet, unter Freunden und guten Bekannten – ich bin aber keins von beiden! Ich bin halt Gast, und das ist hier etwas furchtbar Hilfebedürftiges.

Warum gerade ich die Mutterkomplexe so vieler Menschen aufs äußerste stimuliere (ja materisobratjel) verstehe ich kaum: Ich winsele nicht, bitte um nichts, nehme eher generft und vorwurfsvoll, bestehe wo ich nur kann auf die Unnötigkeit der erbrachten Hilfe (mache also, zumindest mit B.M. aus gutem Grund den Sascha). Man läßt sich aber nicht beirren in seinem Handeln, ist in seinem Fühlen nur etwas verletzt.

Das schlimme für mich, den schlechten Nehmer, ist es, daß ich jetzt so gehbehindert, wie ich bin, ohne Hilfe tatsächlich darben würde.

Freizügig zu nehmen, wage ich aber doch nicht, weil ich die Hintergründe nicht durchschaue und meinem Egoismus in der Kraft mir Feinde zu machen, wenns an’s zurückzahlen geht, nicht traue.

Jan im Spiegel – späte 80er

Ich bin ein Spiegel mit schneidend scharfen Kanten. Wer die Kraft hat mag mich ansehen. Wer mich aber ergreift, soll bluten.

Ich gebe anderen ohne Anstrengung sich selbst in der Reflektion. Mehr nicht. Und in dem Aufwand der Tat soll ihr Wert nicht gemessen werden.

B.M. weiß nicht ob ich boshaft bin oder gutmütig. Ich bin für sie, was sie sich selbst ist. Solange sie mich aus einer beliebigen Distanz betrachtet. Unterschreitet sie die Grenze, wird sie bluteten, ob ich nun boshaft bin, oder nicht. Ich denke sie blutet schon.

Fee in Köln, 1990

Sie spricht mit einer merkwürdigen Eingenommenheit von Alexandra. Sie meint, sie liebe sie schon; auch, daß es das wichtigste sei, mich im Bannkreis Alexandras zu wissen, sie bei mir zu wissen. In dem Lichte sei die Entscheidung, ob ich nun boshaft sei, oder nicht, melotschi.

Sie sagte weiter, daß ich ihr aufwandlos großes Glück beschert habe, sie aber Angst habe, daß ich ihr weiter Schmerz zufüge. In diesem Fall, so denkt sie, sei es besser, die ohnehin eintretende Situation, nämlich daß ich für immer aus ihrem Leben trete, jetzt eintreten zu lassen.

Auch versuchte sie mir ihren Begriff von Hilfe zu erläutern, der furchterregend komplex und widersprüchlich ist. Was die auszuführenden Handlungen angeht, hilft sie ungern, kann aber nicht anders – hilft demzufolge auch für sich. Auch tut sie schlimm daran, das für Menschen zu tun, was sie von Menschen getan haben möchte – weil sie es von den Menschen getan haben will?

Sie steht halt in einer viel zu langen Tradition der eigennützigen (weil freiwilligen) Selbstverneinung in der Zeitgestaltung um die Bedürfnisse anderer, als daß sie jetzt konsequent ihren Wunsch, alle ihr Wehtuhenden auszugrenzen und ihr egozentrische Bedürfnisse bejahendes Ich durchzusetzen.

Von der Insel träumt sie schamhaft weiter.

Seltsam: Will von einem ein Drittel ihrer Tage messenden Jüngling, in die Sakristei der sinnlichen Weiblichkeit eingeführt werden, ist aber schamhaft verstört, wenn ich beim Lernen der Körperteile Scham, Scheide, Hoden usw. wissen will. Die spinnen die Russen.

Außerdem erzählt sie mir, als ich Homosexualität als etwas völlig gewöhnliches erwähne, irgendeine komische Geschichte von einem Litauer, der im Zug von ein paar Sodaten vergewaltigt wurde und diese und ein paar mehr dann erschoß (oder der Typ war ein Russe, die Soldaten Litauer – weiß ich nicht mehr). Damit wollte sie mir klar machen, daß viele Jungens, bevor sie zur Armee gehen, nicht homo seien… .

Cherep und Fee in Piter, 1992

Weiter erfuhr ich, daß old Aleksander sich seinen Finger absichtlich abgeätzt hat, weil er Seelenschmerz mit körperlichem tilgen wollte. Er ist nach der ätz-Aktion mit wundbrennendem Finger aus der Stadt geflohen und Tage später, die mehreren hundert Kilometer zurückgewandert/getrampt gekommen. Es ging natürlich um irgendeine ältere Frau.

Davor schon einmal hat er die Uni wegen eines anderen Mädchens geschmissen. So einen Hang zu romantischen Spinnereien hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Auch den bemerkenswerten Willen zur Selbstverstümmelung – das Entfernen von Gliedmaßen der Extremitäten hat in der Folter vielen Trotzenden den Willen gebrochen, habe ich gelesen.

Ach ja, mir wurden noch zwei Ich’s beschieden, das Ich des habenden Westlers mit tausend Sachen und Möglichkeiten, und Das Welt-Ich des Seienden.

Es hat sich mein PTU-girl wieder gemeldet; sie war bis gestern in Tallin. Sie und der englischsprachige Verwandte meiner Wohnungseigentümer kommen morgen zu besuch. Ich habe von B.M. Order, ihnen nichts von dem von ihr eingekauften und zubereitetem Fleisch zugeben… . Äußerst aggressive Hilfsbereitschaft. Außerdem wunderte sie sich darüber, mit was für einer Leichtigkeit ich Gäste empfinge. Sie bereite sich immer ausgiebigst auf den einzelnen Gast vor – stimmt wohl auch.

Verflucht, dies ist wirklich eine andere Welt.

Anne und Jens Rötsch in Berlin

Und die liebliche Anne rief heute noch an – wird wohl demnächst seufzend in die kräftigen Arme des Jens zurücksinken… über quietschen, kreischen, stöhnen dann bald wieder beim Jammern sein. Alles fließt und trotzdem bleibt’s in Form von Schleifen immer sich selbst ähnlich. In diesem Sinne gibt es vielleicht auch Persönlichkeit (Seele, Charakter, etwas, das bleibt), die dann aber mit unserem Begriff von Individualität nicht viel gemein hat.

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