Leningrad, 01.11.1991: Peer Gynt, Knie, Schicksalvermeidung, BM-Kleiderwechsel

Gestern vor allem mit mir selbst und Peer Gynt zu schaffen gehabt.

Zum sich langsam bessernden Hacken ist jetzt die bekannte Symptomatik für einen Knie-Vorfall hinzugekommen. Seit zwei Tagen ist es wieder geschwollen, mit zunehmender Tendenz. Schmerzen wie beim letzten Mal zunächst nur latent. Kann sein, daß da wirklich etwas passieren muß.

Es ist der reine Horror: Kann ich mich nicht frei bewegen, bewege ich mich am liebsten gar nicht.

Habe mir eine (abstrakte) Inhaltsangabe für eine mögliche Geschichte ausgedacht. Bei mir kommt die Analyse tatsächlich vor der Synthese – meist bleibt die Synthese dann sowieso aus. Ist aber ‘ne ganz gute Idee, in der es um unfreiwillig frei gewordene geht, um Leute, die eine Reise nach Ixlan unternehmen, dort aber ebenso wenig Aufnahme finden, wie wieder in die ehemalige Heimat zurückgekehrt.

Peer Gynt durchgelesen. Interessante Geschichte vom abendländischen Weltverständniß. Sehr interessantes, wenn auch auf den ersten Blick konventionelles (für seine Zeit) Frauenbild… ja, ja die Skandinaven.

Handelt von einem Seewolf, der das, was ich oft denke, lebt, immer auf der Such nach sich Selbst in seinen egoistischen Bedürfnissen, immer sich selbst vor Augen. Kann sich selbst nicht genug sein, als er stirbt. Kann man sich selbst genügen, wenn man vergeht? Findet vielleicht sich selbst (=Ruhe?) in dem ihn empfangenden Mysterium Weib. Sich selbst finden heißt hier, den Eigendünkel in Demuth zu verlieren.

Das ist die Eintrittskarte ins Mysterium. Im Christentum (Leid als Demüthigung, vor allem in der Orthodoxie) wie bei Castaneda (Gleichgültigkeit, indem der Eigendünkel im Angesicht des Todes gedemütigt wird und indem verschiedene Wirklichkeitswahrnehmungen gleicher Gültigkeit bis zum Wahnsinn im Verlieren des Persönlichkeitsbewußtseins erzeugt werden) oder im Buddismus (Erleuchtende Erkenntnis, daß es Seele, Persönlichkeit, Individualität als beständigen Anker gar nicht gibt).

Der Weg und auch das Ziel, das danach angeboten wird, ist unterschiedlich. Im Christentum nennt sich der Weg Gott und das Ziel Unsterblichkeit der (gedemütigten) Seele. Gott heißt im verschlungenen Mysterium den richtigen (moralisch) Weg zu finden. Unsterblichkeit ist in der christlichen Vorstellungswelt, soweit sie mir bekannt ist, eine individuelle.

Bei Castaneda ist das nicht ganz klar: Zum einen geht es darum, die als ein Mensch kulminierte Energie nicht dem erschaffenden Prinzip (“Adler”) zurückzugeben, und als geschlossene Energieform bestehen zu bleiben. Zum anderen ist dies nicht als Erhalt der persönlichen Identität zu verstehen, denn die wird ja als Voraussetzung schon vorher aufgegeben. Es geht auf jeden Fall aber auch darum, “einen Weg mit Herz” nach der Demütigung des Selbstbildnisses einzuschlagen, um den Tot als Auflösung der Eigenheit zu überwinden.

Die Vorstellung im Buddismus, soweit ich mich in sie hineinfinden konnte, ist eine der abendländischen sehr fremde (zumindest in ihrer, heute noch im Theravada-Buddismus weitgehend erhaltenen ursprünglichen Ausprägung): Die Manifestation von Lebensenergie (“der Sucht zu Sein”) in sich als Individuen erlebenden Persönlichkeiten, überhaupt in sich verändernden, abgeschlossenen Lebewesen ist die Herausforderung, die es zu überwinden gilt, weil sie selbst Urquell allen Leides ist (die vier Avasas). Sich auflösen in der See der Ur-Energie (Nirwahna) ist Ziel. Leidfreiheit ist somit höchstes Ziel und Nicht-Tun höchste Tugend (denn durch Veränderung wird das Leid nur vermehrt).

Mit welchem der Ansätze ich sympathisiere, kann ich nur schwer sagen. Was die praktischen Konsequenzen angeht, halte ich das buddistische Verständniß für sehr naheliegend und als Verhaltensanweisug für tugendhaft (Propterhoc’s Rückzugsprinzip zwecks Schadenbegrenzung in Huxley’s “After many a summer”).

Castanedas Weg ist märchenhaft spannend und sehr komplex, was die verschiedenen Wirklichkeitswahrnehmungsmöglichkeiten angeht. Er ist ähnlich exklusiv wie der buddistische, indem er den Tod der meisten Persönlichkeiten als eine Neuformation der Lebensenergie versteht. So wie die Reincarnation der Sucht zu Leben im alten Buddismus.

Die Vorstellungen von Paradies, Fegefeuer und Hölle in der christlichen Vorstellung fallen da etwas naiv raus. Allerdings habe ich mich noch viel zu wenig mit den mittelalterlichen Mystikern oder der orthodoxen Mystik beschäftigt, um diesen Satz so stehenzulassen.

B.M. ist jetzt gerade auf dem Weg zu mir, um mich hier zu unterrichten, weil ich mein Knie schonen möchte. Sie sagt, sie kenne einen guten Arzt…

Ich habe so’n bißchen das Gefühl, im falschen Film zu sein… so in Rosmaries Baby oder so. Auf jeden Fall spinnt diese Welt hier ihr Netzwerk um mich – und da ich ein bequemer Mensch bin, nehme ich freizügig gebohtene Hilfe gerne an. Es wollen mich so ziemlich alle Menschen Leningrads an ihren Arzt, ihr Krankenhaus, ihren Masseur… verweisen. Auf jeden Fall leiden alle heftig mit – besonders auch der Schlosser, der außer mich im Krankenhaus bei seiner Frau auch noch ein Auto mit/von mir organisiert haben will, um sich ein App. zu kaufen. Der alte Sascha-Stunt. Wie hehr die Hilfsbereitschaft hier ist, wage ich nicht zu beurteilen. Sie ist auf alle Fälle groß – und im Augenblick der Hilfe ist die Tat entscheidend, nicht der Gedanke. Ihre möglichen Erwartungshaltungen unbefriedigt lassen, kann ich immer noch – die großartige Freiheit sich Feinde zu machen, sofern man die Kraft dazu hat.

Im übrigen hätte ich schon gut Lust ein bißchen Dr. Schiwagos hier kennenzulernen und im Zweifelsfalle bleibt ja immer noch mein singender Heiler. Die Russen leben und sterben ja auch bloß wie anderswo und das Schicksal hat Stochastik sowieso nicht besonders gut begriffen. Ob ich nun in Deutschland wegen eines unwahrscheinlich falsch gesetzten Nadelstiches oder einer Fehldiagnose ein steifes Knie bekomme, oder hier wegen eines etwas wahrscheinlicheren Infektes, ist im Nachhinein eher egal.

Ist sowieso etwas schlecht organisiert, die Sache mit der Gesundheit.

Übrigens ist ohnehin schon so ungefähr allen klar – den Ärzten, wie den Übermittlern – daß ichs am Meniskus habe. Darauf ist der Depp in Köln nicht gekommen, was an sich ein Indiz zugunsten der russischen Diagnose ist.

Ich habe um ehrlich zu sein auffällig wenig Lust auf irgendein großes Bemerkbarmachen des Göttlichen in meinem Leben, sei es als Aids, steifes Bein oder “Jan, du hast mich geschwängert und ich treibe wegen Deines vielgerühmten Erbgutes nicht ab”.

Dann schon lieber von einer Räuberin entführt werden auf ihre Burg, angekettet als Sexsklave mißbraucht. Da könnte man dann wenigstens noch ‘was fürs Leben lernen.

Ach so, ich habe sicherheitshalber noch meine Neon-Lampe verschenkt, weil ich so ein guter Mensch bin… – dies ist ein Tagebuch und man soll ehrlich sein: …, weil ich das Wort “leihen” nicht kannte und mein Ansinnen dann wohl irgendwie falsch rüberkam.

B.M. ist anschmiegsam wie eh und je, und bei mir schwindet auch langsam der Brechreiz. Wenn sie doch nur nicht so streng nach Mensch röche.

Sie fragte mich heute unvermut, ob ich mich nicht darüber wundern würde, daß sie sich jedes Mal, wenn sie zu mir kommt, erst einmal umziehen würde. Erst da fiel mir auf, daß sie sich in der Tat immer wenn sie kommt, ihr uraltes bauerntischdeckenkatiertes Kleid über ihren zuvor im Bad ganz entblößten Leib streift (auch im Bad). Nun ja, sie hat’s halt lieber leicht auf dem Leib. Es ist erstaunlich, wie sie wirklich die wildfremdesten Personen in weltumspannender Umarmung an sich reißt (z.B. eine Sekretärin im Uni-Büro – die ich an sich auch ganz gerne ein bißchen freundlich Umschlungen hätte, ein Kind in der Elektritschka u.v.m.); die nehmen das auch mit etwas verdattertem Gesicht so hin, bis auf das sichtlich unangenehm verstörte Kind. Kinder verstehen viel von Nähe und Entfernung.

B.M. beschied mir heute die große Fähigkeit körperlicher Herzlichkeit und geistiger Reserviertheit. Das mit der körperlichen Herzlichkeit verstehe ich wenn überhaupt nur im Vergleich mit russ. Männern im allt. Umgang mit Frauen. Ich bin gerade körperlich so ganz bei mir, wie nur selten. Gerade auch durch den Auftakt mit B.M..

Die Bildung, die die meisten Russen haben, ist erstaunlich. Natürlich ist es eine klassische Bildung und kein Up To Date sein, aber so sind die Leute hier unabhängig von ihrem Beruf (hier ist sowieso jeder so ungefähr alles) literaturfester als die meisten gebildeten Deutschen. Den Leuten, die sich besonders engagierten und in die samisdat (underground-Literatur) einstiegen, sind auch Sachen wie Carlos Castaneda bekannt. This realy is the land of the underground.

Falls ich nicht bald wieder frei raus auf die Straße, die Metro kann, kann es gut sein, daß ich die Zelte hier abbreche, bis ich körperlich wiederhergestellt bin. Bis zum ersten Januar muß ich wieder fit sein. Bis dahin gilt mein Urlaubsvisum von der Uni.

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