Tbilissi, 27; März 1993: Ultima necat

Einer dieser Abende, die gut der letzte sein könnten. “Ultima necat”, mag sein, doch läutet sie sich vorher gut ein.

Der warme Frühlingstag heute ließ die Knospen der Bäume aufgehen, die Mädchen warfen ihre Winterhüllen ab und zeigten ihre Jugend. Tiniko sagte, es gäbe nur zwei Sorten von Menschen: Frische und verdorbene (wohl ein Zitat Bulgarkows). Und so fruchtbar und lebendig dieser südliche Frühlingstag anmutete, so erstickend und bedrückend legte die frühe Nacht sich aufs Gemüt. Eine zähe Finsternis.

Nur selten habe ich das Leben so sehr als Qual empfunden, wie an diesem Abend. Man möchte Gott seine Schöpfung ins Gesicht zurück spucken und ihm sagen: Danke!, danke für diese wunderbare Zukunft, die einen von überall her angähnt Was ist das für eine verfluchte Zukunft, die durch ein Ende definiert ist? Umso schöner der Augenblick ist, umso bewußter wird sein Ende.

Über den äußersten Rand meiner Jugend hinaus, blicke ich zurück auf ein recht buntes Leben. Schaue ich mich aber um, bin ich nirgends und führt mein Leben ins Nichts. Ich habe mir noch nicht einmal eine Beschäftigung gesucht, die mich von dem Schicksalhaften meiner Selbst etwas ablenken könnte und mich zudem noch ernährte. Dieses Bewußtsein des Nirgends und Nirgendwohin hat mich in meiner Kindheit schon fast umgebracht. Ich habe mein Menschsein damals sicherlich sehr viel tiefer erlebt, als in den Zeiten der Zuversicht von Australien bis Köln. Jetzt bin ich wieder am Anfang und fühle die grausame Richtigkeit meiner verbalen Selbstdarstellungen. Den Traum vom Platz in dieser Welt, an dem ich in Ruhe leben und sterben könnte, den lasse ich, wie die anderen großen Träume, solange nicht zu, bis es auch ganz sicher zu spät ist, ihn zu realisieren. „Pora moi drug, pora… Schastie net na svete; no est‘ pokoi i volya“. Mir eine ganze Welt selbst zu schaffen, dazu reichen Kraft und Genie nicht aus. Das ist meine Tragödie, die bald in irgendeiner Form des Todes Ausdruck finden wird. In klaren Momenten wie jetzt, erkenne ich das, und mir wird angst und bange. Wäre ich wenigstens ein bißchen begabt in Sachen Selbstmitleid, könnte ich mich vielleicht einfach mal ausheulen und dann mit etwas bescheideneren Ansprüchen weiterschlingern – aber Stolz und Trotz versagen mir das noch.

Verflucht, wäre ich nocheinnal 20, vielleicht würde ich einen planierten Weg gehen – warum sich bis 30 quälen um dann doch alles an Aufstand hinzuschmeißen! Und dann ist es zu spät für etablierte Lebenslügen.

 

–> next page