Tbilissi, 19. April 1993: Straßenszenen

– Eine Frau mittleren Alters, schlank, groß, mit feingeschnittenem Gesicht, das einen inneren Kampf verrät, geht die Straße entlang. Sie trägt eine offensichtlich schwere Plastiktüte, bemüht, die Tragelaschen nicht reißen zu lassen. 20 Meter hinter ihr trottet ein untersetzter Mann, leicht beladen.

Plötzlich wendet die Frau sich wild um, wirft dem Mann einen feurigen Blick zu, hebt ihre Tasche mit ausgestreckten Armen in die Höhe und schüttet mit eleganter Bewegung, in den Hüften wiegend, ihren Inhalt – Kartoffeln – auf die Straße. In der gleichen akkuraten Manier, mit der eine Verkäuferin im staatlichen Sowjetgeschäft die letzten Reste Zucker in die Waagschale schüttet. Hält die Tüte noch einmal demonstrativ dem Mann entgegen, als wolle sie beweisen, daß sie auch wirklich ganz entleert sei, wirft sich ungestüm herum und geht mit großen Schritten weiter. Ihr Gesichtsausdruck hat sich in dieser kurzen Zeitspanne radikal verändert: Belastet und bedrückt kam sie daher und, als wäre es das erste Mal seit Jahren, warf sie den Ballast ab, richtete sich auf und atmete eine frische Luft wieder tief. Ihr Gesicht sprühte vor Leidenschaft und Lust, als sie triumphierend an mir vorüberschritt.

– Auf gleicher Straße viel mir am Kinderpark eine elegant gekleidete alte Hexe auf, die im Sonnenschein die Stufen von-den tiefer gelegenen Parkanlagen zur Straße mit knixigem Gang hinaufbalancierte. Sie war so als Ganzes eine Epatage, eine Ohrfeige ins Gesicht des öffentlichen Geschmacks: In schwarzen, zeitlosen Geschmacklosigkeit) gekleidet, Tüll und Spitze überall, die Haare vor einigen Monaten das letzte Mal rot gefärbt, die faltigen Augenlieder geringschätzig halb geschlossen. Ihre chronisch verkürzten Gesichtsmuskeln hatten ihre Physiognomie in eine ewig höhnende Fratze verzogen. Auf einem größeren Treppenabsatz, auf der Hälfte des gut einsehbaren Aufganges machte sie halt, blickte sich mit wackelndem Kopf um, zog den ständig leicht zuckenden rechten Mundwinkel noch ein Stück tiefer, holte eine Zigarette aus silbernem Etui und steckte sie sich genüßlich an.

Die Passanten starrten sie natürlich entsetzt an, und wäre sie eine andere Frau und nicht solch ein Drachen gewesen, hätte sie sich mit Sicherheit irgendwelche Pöbeleien gefallen lassen müssen. Rauchen gilt für Frauen allg. zumindest als unfein; auf der Straße ist es einfach tabu.

 

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