Tbilissi, 11. April 1993: Platons Feuerzeug

Platon kam heute zu Dato und mir ins Zimmer um seinen Enkel zu fragen, ob er nicht einen Ort wisse, wo man sein Feuerzeug mit Gas nachfüllen könne. Ich wußte, daß dies eine Frage von Bedeutung für Platon war, obwohl er als Nichtraucher und mit Streichhölzern ausgerüstet eigentlich wenig praktische Verwendung dafür hatte. Vor einigen Tagen hatte er es aber trotz allem auf ein kleines Abenteuer und einen Krach mit Viktoria ankommen lassen, und war alleine den Hügel hinuntergestiefelt, ins Ungewisse, weil er von einem Geschäft gehört hatte, das in der näheren Umgebung gelegen sein sollte und Feuerzeuge nachfülle. Er hatte es aber nicht bis dorthin geschafft Bekannte hatten ihn zurückbringen müssen. Viktoria, die Platon nach seinem Schwächeanfall gehörig ausschalt und mit Spritzen in den Po versah, weigert sich seitdem, ihm diesen Dienst zu erfüllen.

Platon, der seit einem halben Jahr zu Hause sitzt, durch den Zusammenbruch des öffentlichen Verkehrssystems von seiner Arbeitsstelle als Chemiker im weit entfernt liegenden Physiochemischen Institut abgeschnitten, und traurig still auf den nahenden Tod wartet, erklärte uns die Situation folgendermaßen: “Bis zu dem Geschäft zu laufen, daß ist doch eine große Sache …. Vielleicht findest Du jemanden, der das an der Universität machen kann.” Hier kam Viktoria reingebürstet und schimpfte ihn aus. Er fuhr fort: “Viktoria findet, daß man nur als Raucher ein Feuerzeug brauche …. Ich bin da anderer Meinung …. Vielleicht fragt mich ja mal jemand nach Feuer, im Hof zum Beispiel … und es hat so gut funktioniert. Und dann: Was soll ein Mann mit einem leeren Feuerzeug in der Tasche?”.

Mir wurde bewußt, daß dieses Gespräch, obwohl er milde lächelte, selbst wenn Viktoria dazwischen meckerte, ein Gespräch um Leben und Tod war. Vor einem halben Jahr hat dieser über achtzig Jahre alte Mann noch jeden Tag als Ratgeber gearbeitet, so fachkundig, daß auch heute noch seine Mitarbeiter den weiten Weg auf den Hügel hinauf nicht scheuen, wenn sie ein fachliches Problem nicht selbst bewältigt bekommen. Jetzt sitzt er ununterbrochen zu Hause, schwerhörig und in völliger Abhängigkeit des Muttertiers Viktoria. Zuhause, das heißt: zwei dunkle Zimmer in einem verfallenen Altbau, ehemals von Priestern bewohnt, abfallender Putz, ein Plumpsklo für vier Familien, keine Dusche und kein warmes Wasser. Ihn so ganz in seinem Kummer versunken zu sehen frage ich mich, woher er die Kraft nimmt zu seinem wärmespendenden, milden Lächeln. Nie sah ich in seinem Blick Boshaftigkeit oder Anschuldigung, nicht einmal Verbitterung. Nur Traurigkeit und manches Mal auch leise Verzweiflung.

Dato willigte natürlich ein. Platon brachte freudig das Feuerzeug, aber es war ein Einwegfeuerzeug.

 

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