Tbilisi, 13. Dezember 1992: Godovshino, Intelligentsiya, Nino Zakareadze

Heute mit Ljoscha, der sich bewußt für mich zu einem Schlüssel zur hiesigen Intelligenzija macht, auf einer Totenfeier anläßlich des einjährigen Verschiedenseins einer Eteri Petrowa Toporidse gewesen. Diese war enge Freundin der durchaus nicht unbekannten Künstlerin Elena Achwlediaki (1902-1975), deren Wohnhaus sie nach dem Tod der Künstlerin als Museum weiterführte. So wurde sie zur Seele der Künstler/Intelligenzija Gruppe, die sich um Werk und Persönlichkeit Elenas Achwlediani sammelten.

Das Haus liegt in einem der privilegierteren Stadtteile Tbilisis. Es ist ein typisches altes Wohnhaus, mit nostalgischem Hof, Holzbalkons mit traditionellen Schnitzereien, hoher Decke usw. ..

Die Künstlerin selbst lebte und studierte einige Zeit in Frankreich, war als praktizierende Lesbe Zentrum der tbilissier Szene und malte vor allem ihre Heimat, recht detailliert.

Die Reden, die auf Eteri gehalten wurden, vom Direktor des Kunstmuseums Georgiens, verschieden Kunstkritikern/Experten, Verwandten und Bekannten von ihr (einschließlich Ljoschas), strichen bemerkenswert intelligent und gar nicht profan die Verstorbene als eine Integrationsfigur für einen großen und sehr verschiedenen Kreis von mit Kunst verbundenen Menschen heraus, ihren aktiven (handelnden) Anteil an dem Werk von Künstlern, indem sie es als energievoller Katalysator interessierten Menschen zugänglich trachte und die große Würde, mit der sie ihren Mitmenschen gegenüber trat.

Die gesamte Feier war nicht im Geringsten kitschig oder gekünstelt. Außerdem lernte ich verstehen, daß es tatsächlich eine sich sehr deutlich abzeichnende tbilissier Intelligenz gibt, die sehr weit entfernt von der auf der Straße sichtbaren Alltagskultur, interkulturell zwischen Rußland und Georgien existiert.

Ich fand endlich die Georgier, die ich, Iveries Aura im Bewußtsein habend, die letzten eineinhalb Monate vermißte. Ich habe Intelligenz und Schönheit – tatsächlich unabhängig vom Alter der Menschen – noch nie so eng verbunden gesehen.

Auffällig war weiter, daß diese Tradition einer kulturtragenden und weiterentwickelden Schicht mit der Generation der Mittdreißiger aufhört. sind die Generationen, die ihren Geist noch ausrichten konnten auf das, was die Menschen vereint, bereit waren, die Vorzüge aus dem Kontakt zwischen Kulturen (russischer, georgischer, abchasischer usw.) schöpferisch zu verwerten und eben dadurch eine große, eigenständige Kultur erschufen. Der Verlust dieser kritischen Offenheit zwischen Kulturen wurde von manchem Redner bedauert. Eine mit Ljoscha bekannte Abchasin, die seit dem Kriegsausbruch in Abchasien viel durchgemacht hat (Kündigungsdrohungen, Isolation), erlitt während ihrer Rede einen Migräneanfall.

Ein Pianist ließ leidenschaftliche Gebete auf dem Klavier entstehen. Er diente seiner Zeit in Sibirien als Soldat; dort froren ihm zu seinem großen Unglück Teile seiner linken Hand ab und erst unter der Obhut Eteries, die er zufällig kennen lernte, gewann er sein Selbstvertrauen zurück und ging seinem Beruf weiter nach.

Auch lernte ich eine alte Bekannte Gamsachhurdias kennen, die mir etwas Klarheit in Bezug auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit im Einfluß von zunächst Repression und dann eigener Macht schaffte. Verfolgungswahn und Opportunismus waren ihm schon lange zu eigen. Interessant, daß er in seinen jungen Jahren Anhänger Rudolf Steiners gewesen ist und über seine Lehre sogar Vorlesungen gehalten hat.

Ferner mich von der Anwesenheit der Enkelin eines der berühmtesten georgischen Schauspielers Sergo Zakareadze, Ur-Enkelin der Diva Nino Chkhezidze (und Nichte der eben erwähnten Frau, Irina Tschartuschwilis) einnehmen lassen: Eine klangvolle Schönheit in ihren Dreißigern, die anrührt, sachte, wie man eine große Glocke anschlägt, um ihre Klangtiefe zu testen, von ihrer Wirkung weiß und doch nicht spielerisch wirkt. Sie und Irina Tsch. werde ich morgen auf einen Tee wiedersehen.

Wieder zu Hause brachte mir Tiniko Brot und selbstgemachtes Gelee vorbei. Ich begleitete sie noch nach Hause und ließ mich glücklicher Weise darauf ein, ihrer Familie, bestehend aus Tochter, zwei Schwestern, einem Bruder, der Stiefmutter und dem abwesenden Vater, vorgestellt zu werden. Ihre verheiratete ältere Schwester mit Kind, von beachtlicher Schönheit, erinnert äußerlich, wie im Betragen und Weltempfinden sehr an Celia.

Ljoscha wird wohl bald so richtig losschwuchteln. Er ist sehr protektiv was mich angeht, vor allem gegen Einflüsse von Frauen auf meine Zeitgestaltung (Tiniko). Allgemein halten Georgier Ausländer nicht für besonders überlebensfähig in dem Land, das sie selbst so lieben.

Der Verdienst von Ärzten, Journalisten und anderen Berufen des Bildungsbürgertums 1iegt unter 2000 Rubeln. Butter kostet bis zum Januar 300 Rubel, Brot 25R, ein Liter Benzin 300R. Ab Januar wird Butter über tausend R. kosten, Brot über l00R.,

Tinikos Vater ist der reiche Besitzer einer Brauerei und mehrer Patente zur Sektherstellung, guter Zugang zu edlem Fusel tat sich mir da auf. Tiniko selbst ist schwer herzklappenkrank und etwas hexenhaft. Das Verlieben habe ich ihr schon untersagt.

Als ich mein beliebtes Psycho-Mal-Test-Spiel mit ihr und ihrer schönen Schwester spielte, versagte beim anwesenden Bruder selbst fast die Herzklappe, als es an die Erklärung von Schlange und das Wasser ging. Er bemerkte georgisch verstimmt, daß die Mutter (die schöne Schwester war gemeint) den Vater (der Nachbar) nicht mit dem Kind alleine lassen dürfe, heitzte mich unter gehörigem Gummieverschleiß doch noch um halb Eins nach Haus.

Besitzdenken und damit Eiversucht nimmt in Georgien einen sehr wichtigen Platz ein, besonders natürlich in Bezug auf den Partner (den beide weit von ihrer Persönlichkeit und der Sexualität entfernt zeichneten) und die Kinder.

 

Ich bin ein Mensch ohne Geschichte. Es ist da nichts Wesentliches in meiner Vergangenheit, aus dem ich mein Selbst ableiten würde.

Eben war ich bei Menschen mit starker Geschichte. Noch erwehren sie sich der Versuchung. von dieser Geschichte ganz in Besitz genommen zu werden. Eine junge Professorin für Orientalistik nahm sich mit gesalzener Ironie in Wort und lebendiger Mimik aus dem Kreis der sich in Erinnerung findenden. Kito mit Nahmen hat einen Verstand von eindrucksvoller schärfe und nimmt dem ewigen “Und früher war Tbilissi die lebenslustigste, herzlichste Stadt Europas” Gequatsche die Maske ab. 365 Tage Karneval im Jahr sind permanenter Selbstbetrug. Die schöne Nino hingegen, verheiratet mit einem recht bekannten Filmregisseur, Enkelin eines der berühmtesten Schauspieler der Sowjetunion und Urenkelin der ihrerseits bekanntesten Diva des Tbilissier Theaters, schenkte dem, was ich von mir gab, nicht die geringste Beachtung, sondern zog es vor, sich vor mir als aufmerksamen Betrachter kunstvoll und elegant zu inszenieren. Leichte Spannung wurde der Situation dadurch zuteil , daß ihre Tante, Irina AC. , bei der wir zu Gast waren, ebenfalls bemüht war, sich selbst in ihrer Vergangenheit zum Gefallen der Gäste aufzutragen. Ihre kultivierte Selbstgefälligkeit schöpft sie vor allem aus den Bekanntschaften und Treffen mit Sternen am Firmament eines einstigen öffentlichen Lebens. So trank ich, während mir die Lieblingstasse Gamsachhurdias gezeigt wurde, Tee aus der Tasse, aus der der Führer der Menschewiki zur Zeit der dreijährigen georgischen Republik immer getrunken hatte. Wenn ich selbst zu Wort kam und ausreden gelassen wurde, so nur aus Höflichkeit, ansonsten war ich gerngesehener Zuschauer. Trotz alledem war die Stimmung nicht im Geringsten affektiert und durchaus angenehm.

 

Eine filmreife Geschichte erzählte Nino: Nach New York wurde ein georgischer Männerchor direkt aus den Bergen Swanetis eingeflogen. Diese Kerle von echtem Schrot und Korn hatten in ihrem Leben noch nicht Tbilissi, geschweige denn Moskau gesehen und wurden dementsprechend unbedarft im Hilton abgeliefert. Ein wohlmeinender Bass mit mächtigem Bart fügte eine neue Variante zu dem Repertoire der unzähligen Toiletten-Szenen hinzu: Nachdem der Bär einen mächtigen Bergschiß in die Kloschüssel entlassen hatte, spülte er, wie es sich gehört. Die Spülung war nun aber eine von denen, die das Becken erst ganz mit Wasser füllen und es dann vollständig entleeren. Der arme Swan sah nun, wie sich seine frische Scheiße empor gegen die Decke hub und riß sie in der Angst, sie könnten die glänzenden Kacheln einsauen, mit seinen Händen an sich; stand also mit seinem übel riechendem Fang da, als sich das Becken leerte, und machte große Augen.

Auch erfuhr ich, daß Russen nicht selten das Spülbecken auf Hotelklos mit Heizspiralen zum Kochen von Eiern benutzen.

Ansonsten drückten wir uns beim Abschied natürlich etwas zu lange die Hand, um Unvergänglichkeit zu vermeiden, obwohl sie mir, nachdem sie im dunklen Treppenhaus graziös meinen Arm ergriffen hatte, auf einen leichten Gegendruck meinerseits mit einem bestimmten “WCJO” reagierte. Auch vermag sie es angenehm kontrastierend MATOM zu Fluchen, und dies sogar mir zur Liebe, reagierend auf einen anerkennenden Blick, zu wiederholen. Auch wurde in dieser Runde betont offen, bis zu einer gewissen, recht bald anzusetzenden Grenze, von Homosexualität und anderen Problemen sexueller Natur gesprochen.

 

Bei meinem Balkonnachbarn gehen jetzt schwere Jungs mit Schießeisen ein und aus.

 

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