Piter, 03.07.1993: 29.05 (Tbilissi, auf dem Weg nach Swanetien) bis zum 02.07 (Petersburg)

TAGEBUCHZUSAMMENSCHRIFT vom 29.05 (Tbilissi, auf dem Weg nach Swanetien) bis zum 02.07 (Petersburg)

29.05, Flughafen Tbilissi

Eine ganze Generation im Kampfanzug wuchtet grob ihre Körper durch die Straßen. Keine Grazie, keine Milde, kein Mitleid in den leeren Augen der Stadt. Einzig vielleicht Gnade als letzte der großen, imitierten Gesten der Selbstdarsteller.

Der Krieg, so begrenzt er geographisch auch ist, hat eine ganze Generation gerötet. Die wenigen Ausnahmen zeigen sich nicht.

Hier scheint es, als wäre die Aufteilung in Männer- und Frauen­arbeit dafür erdacht worden, damit Männer auch etwas tun.

Der Gang eines Menschen erzählt viel von dessen persönlicher Geschichte. Besonders bei älteren Menschen, deren Gegenwart von flüchtigen Gefühlswallungen nicht mehr erschüttert wird.

31.05, Mestia. Morgens.

Um 10.00 treffen mit Akaki (Kako) Nakani, 65j.. Er war die Nacht über bei einem Heiler (Dschwinis Mchelgiani), seinem Onkel, um das Rezept einer Zugsalbe zu erfah­ren und bei der Zubereitung der Medizin zuzusehen. Der Heiler, der sein Wissen sonst einzig seinen Söhnen vermittelt, erklärte sich bereit Akaki dieses eine Rezept zu verraten, weil dieser mit eitrigen Hautentzündungen oft zu schaffen hat und ferner der engeren Familie des Heilers praktische Hilfe mit seiner Fingerfertigkeit erwie­sen hatte.

Akaki selbst erklärte sich bereit, das Rezept an mich weiterzuge­ben. Dies ist für ihn möglich, weil er als nicht direkter Schüler des Heilers kein Gelübde abgelegt hat. In diesem Gelübde ver­spricht der Schüler, das erlernte Wissen niemand anderem als seinem ältesten Sohne (jetzt mitunter auch schon allen Söhnen) weiterzugeben. Gelobt wird ohne Zeremoniell in einer Kirche. Bleibt die Familie eines Heilers ohne Sohn, nimmt dieser sein Wissen mit ins Grab. So geschah es mit einem Bekannten Schotas (?), dessen Vater ein großer Heiler Anfang des Jhd.’s war und sein Wissen nur diesem einen, dann Kinderlos bleiben­den Sohn weitergab. Schota erzählte, wie der Vater seinem Sohn zu Kriegszeiten den rechten Arm rettete: Der Sohn war von einer Kugel verwundet worden (?) und da die Wunde einige Tage unversorgt geblieben war, sah der endlich konsultierte Arzt die einzige Möglichkeit das Leben des jungen Mannes zu retten, in der Amputation des Armes. Der Vater aber sagte sich: “Was soll ich mit einem Sohn ohne Arm?” und zog es vor, die Operation selbst vorzunehmen. Als Instrumente standen ihm nur die Werkzeuge zur Verfügung, die im Schuppen zur Be­arbei­tung von Holz lagen und Medikamente sowie Betäubungsmittel gab es gar nicht. Mit seinen wundheilenden, antiseptischen und narkoti­sierenden pflanzlichen Mitteln gelang es dem Heiler trotz allen widrigen Umständen, die Wund zu säubern, den fauligen Knochen zu entfernen und den Knochen so zu verbinden, daß der Arm, wenn auch etwas kürzer, wieder zusammenwuchs.

Den Eid selbst nannte Schota “Hippokratischen Eid”. Dank seiner ist es wohl kein Wunder, daß der schwule Direktor der Abteilung für Heilpflanzen im botani­schen Garten Tbilissis auch nach drei­jähriger Feldarbeit in Swanetien nicht ein einziges ernstzunehmen­des einheimisches Rezept mit sich nach Hause nehmen konnte.

Gestern einen sehr sympathischen jungen Jäger, Dschimtscher Tschertolani (27J.), kennengelernt. Er kennt die Gegend ausge­zeichnet, und ist selbst an Heilpflanzen interessiert (möchte von mir lernen – auch Akaki hofft auf Rezepte von mir). Der Jäger ist klein, sehr durchtrainiert und hat erst sieben Mal in seinem Leben gesof­fen. In seinen Augen ist viel Freundlichkeit und Offenheit. Er erzählte in gebroche­nem Russisch von siebentägigen Jagdaus­flügen in den Norden an die russische Grenze. Mit der Kalaschnikow träfe er die Gämse nur 1 Mal in zehn Versuchen; mit dem Repe­tier­gewehr stehen die Chancen bessere 1 zu 5, dafür könne man mit dem automatischen Gewehr aber hintereinanderweg schießen.

Eine einheimische Lehrerin (Ziuri Gabliani) mit guten Kenntnissen der deutschen und englischen Sprache kam abends vorbei und lud uns für morgen zum Essen ein. Ziemlich viel europäische Bildung für die Berge auf einem Haufen.

Erster Eindruck von den Einheimischen: Zurückhaltend freundlich, rau, gradlinig – Highlanders.

natumzewel: Kleine Kapelle auf winzigem Familienfriedhof gelegen. Die Fenster sind winzige Schlitze, wie Schießscharten. Über der Tür ist ein verfallenes Kreuz einge­meißelt. Fotos sind auch hier auf den Grabsteinen zu finden, doch bescheidender als in Samtre­dia.

Größere und mächtigere Familien haben eigene Friedhöfe und Kapellen. Auch Familien­ikonen sind weit verbreitet. Die Türme aus dem 11 und 12 Jhd. ebenso, waren und sind Zeichen der Macht von ein­zelnen Familien. Zur gemeinsamen Verteidigung wären sie völlig ungeeignet angeordnet gewesen. Ein vorfeudales Erzpatriachat.

02.06

Stadtgespräch ist hier jetzt die Reaktion einiger Swanen auf den Besuch ihres Abgeortneten (u.a. Abgeortneter) in Mestia. Da diese es nicht für nötig hiel­ten, mit dem Volk in irgendeiner Weise Kontakt aufzunehmen, sich deren Sorgen und Nöte anzuhören, wurden sie unter MG-Feuer zurück in den Hubschrauber nach Tbilissi ge­jagt.

Ähnlich konnte sich auch eine drastische Preiserhöhung der Hub­schraubertickets (um 400%) nicht durchsetzen: Für die arm lebenden Bergbauern waren die 3000R. schon ein großer Brocken, den es bisher für den einzig noch halbwegs zuver­lässig funktionie­renden Transportweg aufzubringen galt (Mein Jäger allerdings, flog auf Anraten eines befreundeten Piloten bisher immer schwarz – er weigerte sich einfach zu bezahlen und kam damit bisher auch immer durch). Gestern versammelte sich unter diesem Vorwand das ganze empörte Mestia auf der mit Kühen bevölkerten Flugweide, um den Hubschrau­ber, sollte er kommen, zu kidnap­pen. Der kam aber nicht, weil in Tbilissi eine noch größere Gruppe aufgebrach­ter Swanen den Flughafen besetzt hatte.

Jetzt fliegen erst einmal gar keine Hubschrauber mehr.

Güldene Zeiten

C.a. 20km. von Mestia entfernt liegt im Gebirge an einem Bach ein goldreiches Gebiet. Vor vier Jahren arbeiteten dort Geologen. Diese sagten Muradi Tschertu­lani bei ihrer Abreise, daß die Erde dort pro Tonne acht Gramm reinstes Gold berge.

Gewaschen wird nach einem Verfahren, das sich scholobi nennt. Ein Schaflies wird auf ein langes Holzbrett genagelt. Auf das Brett wird mit Holzleisten ein Rahmen ange­bracht, der leiterartig Quer­verstrebungen enthält. In diesen Rahmen wird die gold­reiche Erde geschaufelt während Wasser vom Fluß über die Sprossen fließt und den leichteren Sand  entfernt. An den Sprossen und im Flies bleibt das Gold liegen. Die Legende vom Goldenem Flies rüht wohl von dieser alten Technik her.

Während der Knastzeit Muradis (ein Jahr Zone in Georgien) passierte es, daß ein Mitgefangener beim Ausgang drei Samenkörner des Stech­apfels aß. Binnen einer Vier­telstunde fing dieser an, sich wie ein Irrer bis aufs Blut zur kratzen, atmete schwer, drehte dann ganz durch und sprang über eine übermannshohe Mauer in einen verbotenen Teil der Zone. Dort schrie er dann wie ein angestochenes Schwein. Die Soldaten kamen angerannt – seldsamer Weise aber diesseits der Mauer – und hießen die Gefangenen sich durchzählen (at gunpoint). Folgerten erst so, daß einer fehlte und fanden ihn im verbohtenen Teil. Dafür wurden die anderen Gefangenen zur Strafe durchgeprügelt. Der   als Strafmaßnahme für den er folgende Delikatesse aus: Er wurde fortan als der Pederast behandelt, als der er sich seinen Mitgefange­nen gegenüber gezeigt hatte – wurde also der Reihe nach durchgefickt.

Außerdem erzählte der ischiaskranke Muradi, betrunken und recht verzweifelt bei mir Gehör suchend, daß auch er nun bald anfangen werde zu rauben, weil seine Kinder, nachdem das Mehl ausgegangen sein wird, nach Brot schreien werden. Seine Vorräte seien im letzten Jahr draufgegangen, als er 5 abchasische Flücht­linge mit durch­gefüttert hatte.

Interessant, wie schnell sich herumgesprochen hat, daß ich mich für Heilpflanzen interessiere: Nicht daß mir Einheimische ihre Rezepte verraten würden – im Gegenteil kommen jetzt laufend ir­gendwelche Typen mit ihren Wehwehchen zu mir und bitten um Rat. Einen Deppen mit Zahnschmerzen gelang es mir schon fast, in die Welt der Schatten zu versetzen, indem ich ihm das gute, alte Bilsenkraut zu rauchen gab. Er meinte am nächsten Tag: “Ja, die Schmerzen waren weg, aber Hände, Beine, nicht mehr meine!”

lile = Hymne an die Sonne, aus vorchristlicher Zeit

narsan = Swanetisches Mineralwasser

Gott ist bei den Swanen “Der Gott der Götter”. An zweiter Stelle steht formal der Erzengel  (Gabriel oder Michael?), und danach, oft sogar die wich­tigste Position einnehmend, der Heilige Georg als Schutzheiliger des bäurischen Lebens.

mechschi = Der Sippenälteste

07.06

Ieli – ein Dorf an einem der Zuflüsse des Inguri gelegen, daß für seinen Reichtum an Gold so bekannt ist, daß vor zwei Wochen 4 Banditen ein paar Häuser ausgeraubt haben.

Weiter erzählte Dschimtscher, daß sich ein Jäger vor ca. 12 Jahren im Gebirge bei Uschguli verirrt habe. Als der Nebel sich nach drei Tagen endlich lichtete, wurde er von einem goldenem Felsen, der zwischen zwei Steilwänden verborgen lag, so sehr geblendet, daß er wenige Tage später sein Augenlicht ganz verlor. Ein Bach fließe zwischen den Steilwänden herab und führe Mengen von Gold mit sich. Damit stopfte sich der Jäger seine Taschen voll und ging nach Haus zurück, blind zu werden und auf seinen Neffen zu warten, um einzig ihm sein Geheimnis zu verraten. Der Neffe kamm aber wenige Tage zu spät, der erblindete Alte lag schon ohne Bewußtsein im Sterben.

Nächstes Jahr wollen wir zusammen die Wand suchen.

In Mestia wird den Dörflern aus den Bergen der gleiche provinziel­le Hochmut ent­gegengebracht, wie in Tbilissi den Mestianern.

Mein Jäger erzählte mir gerade, daß viele der Russen, die in Swane­tien leben, tat­sächlich wie Sklaven gehalten würden.

In betscho z.B., lebten ca. 40 Russen in Familien – nur zum Arbei­ten. Einige von ihnen wären in Sibirien, wo viele junge Swanen auf Zeit arbeiten, angelockt worden, mit Versprechungen darauf, daß Swanetien noch das letzte freie Trinker­paradies der Sowjetunion sei. Hier angekommen werde ihnen der Paß abgenommen und sie werden ohne Entgelt und ratscha zum Arbeiten gezwungen. Andere suchen als Verbrecher auf der Flucht Deckung vor ihren Häschern im gesetzlo­sen Swanetien. An die Miliz wird auch in der Tat niemand ausgeliefert. Dann gäbe es, darf man Schota Glauben schenken, noch ein paar Tramps, die zunächst im sonnigen Ab­chasien flaniert hätten, dann, als der Krieg ausbrach, aber einen heißen Arsch bekommen hätten und unwillig dem Geruch des Selbstgebrannten entgegen nach Osten in die Berge gezogen seien. Es komme oft vor, daß diese in allen Fällen seltsamen Wesen aus den Kellern der sowjet. Gesell­schaft unter Anwendung von brutaler Gewalt zurückgehalten werden, wenn sie aus der Familie, in der sie arbeiten, gehen wollen. Es komme auch vor, daß sie nach Lust und Laune zu­sammengeschlagen werden. Ich fragte Dschimtscher, ob es auch zu Morden und Tod­schlägen komme und er antwortete: “Nein, aber oft wäre es besser für sie.”. Mischa, ein Russe aus Moskau und Walodja, ein Ukrainer aus Petersburg, sind aber nach eigenen Aussagen noch freiwillig hier. Walodja, ein unglaublich verlebter  mit fiesen grünen Augen, war vor kurzem von Schotas Bruder, dem Chefarzt des Kran­kenhauses Mestias, wegen Trunkenheit und ungebürlichem Verhalten aus dem Haus gejagt worden. Mischa, der zu der Gruppe der Ent­laufenen zählt, flucht tatsächlich kaum noch. In Gegenwart von Swaninnen versagen sich dies wohl alle Russen, so schwer es ihnen auch fällt, denn die Reaktionen der Swanen sind nicht selten schmerzhaft für die Wortrüpel.

lip’anali (beschrieben bei Wero Bardawelidse)

Schota erzählte von einem interessanten Fest mit selbigem Namen, das im Februar zur Ehre der toten Ahnen abgehalten wird.

Die Toten sind wie anwesend: Am ersten Abend des Festes werden die Türen geöffnet, die Ältesten gehen hinaus auf den Hof und laden die Toten mit freund­lichen Worten ein, hereinzukommen. Die folgen­den Tage wird im Hause nur mit gesenkter Stimme gesprochen, jeder Lärm wird vermieden um die Toten nicht zu verschrecken. Dann, nach 3 bis 5 Tagen (abhängig vom rel. Kalender), wird ein Bankett gehal­ten. Für die Toten wird symbolisch mitgedeckt und ihre Pokale werden mit Wein gefüllt (gestorbene Kinder und Frauen, die nicht tranken bekommen Milch eingeschenkt). Nach dem Essen werden die Toten wieder auf den Hof begleitet und verabschiedet.

Anwesend sind alle Verstorbenen, an deren Namen man sich noch erinnert.

Zu dem Tod seiner Eltern, bei dem er in beiden Fällen anwesend war, bemerkte Schota mit kaltem Schaudern: “Как им хочется жить, до последного секунда. Я не думал, что старики так хотят жить…”

In einer Zeit, in der es dem Menschen möglich ist, alle Schöpfung auf Erden zu vernichten, kann es keine klassische Philosophie mehr geben.

Nochmal Schota:

Unbefriedigte georgische Frauen reisten schon seit langem in die Türkei, um sich dort für Geld durchvögeln zu lassen. Als das in Tbilissi bekannt wurde, gab es großen Lärm und es wurde eine regelrechte Hexenjagt auf die “Schänder des georgischen Volkes” veranstaltet (er erzählte das als Sympathisant der Jäger).

Georgische Mannsbilder führen aber schon immer nicht zur Erholung ans Meer, sondern um sich für ihre keuschen georgischen Jungfrauen an russischen Ziel­scheiben in Form zu schießen. Einzig Anton und Dschimtscher zeigten eine gewisse Achtung vor Russinnen. Doch auch sie können sich nur die Ehe mit einer Frau vorstellen, die sie selbst entjungfert haben.

Schota: “In den Fünfziger Jahren gab es in Tbilissi drei Schlampen und von denen wußte jeder: Die eine in der Altstadt, die andere verkaufte Brot in der Studenten­stadt und die dritte wohnte in Saburtalo. Bljatstwo gab es damals nicht.”

Außerdem nannte er die 16 Frauen und Mädchen, die im April ’89 von russischen Sondereinheiten erschlagen worden waren “Huren und Nutten”, wohl weil sie sich für Politik interessiert hatten.

Weiter bemerkte er etwas verbittert: “Als das Gerede von Ge­schlechtskrankheiten bei uns in den 80’gern losging, habe ich das Interesse verloren, mit Frauen zu schlafen. Ich bin sehr ent­täuscht von den Frauen.”

Friedhöfe in Swanetien

Allg. bescheidener angelegt. Der Imagekult besteht aber auch hier, Fotos auf allen Grabsteinen. Dieser Kult um die Erscheinung der individuellen verstorbe­nen Persön­lichkeit scheint – zumindest in Swanetien – schon vor der nach Ersatz­symbolen for­dernden Sowjet­zeit bestanden zu haben: In einem Ethnologiebuch über Georgien fand ich Abbildungen von Gräbern in Swanetien aus dem Ende des letzten Jhd’s, auf denen Grabsteine zu erkennen waren, die mit gemeißelten Nachbildun­gen des Antlitz des Verstorbenen versehen waren.

Heute gibt es diese Nachahmungen in allen Fassons: Skulpturen, Photos in allen Größen, Porträts, bei denen ganz deutlich künst­lerische Ausdruckskraft keiner­lei Rolle spielt und die vielmehr von Profis an Gros produziert werden. Diese Abbildungen, ein­schließlich der Fotos, sind meist stilisiert und zeigen den Ver­storbenen in Lebensblüte. Es sind aber vereinzelt auch Totenmasken anzutref­fen. Die Fotos auf den Grabsteinen werden mit einem beson­deren Ätzverfahren auf den Marmor übertragen. Hier findet man neben dem Porträt auch oft charakteri­stische materielle Symbole aus dem Leben des Toten. So für Piloten Flugzeuge, für Soldaten Waffen usw.. Die Symbolik des Christentums findet man selten – wenn nur in Form des spez. georgischen Wein­kreuzes der Nino.

Weiter befindet sich auf den nicht selten eingezäunten Grä­bern meistens ein kleiner Tisch mit einem Teller, einem Glas und einer Flasche. Die Flasche ist mit Wein oder “Ratscha” – dem swanetischen, aus Brot gebrannten Wodka – gefüllt. Kommt ein Freund oder Verwandter des Toten vorbei, trinkt er ein Glas auf ihn, nachdem er etwas Flüssigkeit auf den Boden gegossen hat. An den vielen Tagen, an den man dem Todestag gedenkt, versammeln sich die näheren Freunde und Verwandten auf dem Grab und fespern.

In Tbilissi sind Friedhöfe deshalb ein beliebter Anlaufpunkt für Penner und Obdach­lose, die sich über Speis und Trank der Toten hermachen. Besonders bei frischen Toten wird reich Aufgedeckt.

Auch Mausoleen trifft man nicht selten: Von heruntergekommenen Baracken bis zu kleinen Häusern jede Güteklasse. Darin dann Ab­bildungen aller Art und Größen. Gemütliche Sitzecken, in Samtredi ja sogar mit Fernseher und Kühlschrank.

In Ip’rari hängt noch eine weitere Ikone des genialen königlichen Künstlers Theodori (12’tes Jhd. – David Achmasch.). Viele große Kunstwerke der georgischen Blütezeit sind in Swanetien, das ja bis zur Sowjetzeit nie von Fremden eingenommen wurde, erhalten geblie­ben.

An alle Ethnonostalgiker und Carlos Castaneda Freaks:

Bin Mensch

und habe mich in diesem Sinne

von der Erde hochgerissen.

Die Därme sind geblieben 

an der Erde hängen.

 

Will mein Menschsein nicht ableugnen;

sehne mich nach der Erde,

suche sie, spüre ihr Pochen - diesen Alpdruck.

Lasse die Sehnsucht sogar zu, manchmal,

wenn ich mich in ihrer Umarmung befinde.

 

Aber:

Werde mit meinem Schicksal nicht hadern!

Muß doch Mensch sein

mit aller Tragödie, die dazu gehört.

Eher der Faust, eher der Peer Gynt

als Buddah oder Carlos.

Die Tiere sind wir nicht mehr,

wir sind es nicht

und damit bleibt keine Frage zum entscheiden.

Wir spielen die Alternative nur.

Мама, ради меня обратно! Ich denke, daß wir zwei Möglichkeiten haben: Entweder wir sind blind… oder wir sind im großen unglück­lich. Ignorance is bliss. Der Ruf der Wildnis ist vielleicht wirklich ein Ruf zurück in die Unwissenheit, zurück zum Geheimnis.

Schota bereut, sich keine Zweitfrau in Mestia zugelegt zu haben. Dies wäre ohne weiteres möglich gewesen und ist ihm auch angeboh­ten worden. Da seine Frau, aus Gori stammend, meist dort oder in Tbilissi ist, fehlt es ihm in Swaneti an Nestwärme.

Sinnbild Georgiens: Im Garten hinter dem Ethnographischen Museum Mestias, in Rich­tung der fünfzig Meter entfernt stehenden weißen Kirche, trifft das be­trachtende Auge zunächst auf einen schnee­weißen Felsbrock, in dessen natürli­cher Nische Kerzen­ständer und ein Ninokreuz angebracht sind. Dahinter dann gleich die georgisch/sowjetische Flagge, von der die Sowjetzeichen einfach entfernt wurden. Dahinter dann, direkt vor der Kirche, die jetzt als einziger Ausstellungsraum genutzt wird, ein Verteilerkasten und Strohmmast.

Swanskij Dom (Geburtshaus Michail Hergianis)

Im Wohnraum befindet sich die Feuerstelle in der Mitte. Über dem Feuer sind auf einer Holzlade Steine als Feuerschutz aufgehängt. Es soll keine Überlieferung geben, die besagte, daß ein dieserart gebautes Haus Feuer gefangen hätte. Um den Herd herum gruppierte sich die Großfammilie: Der Familienälteste erhöht im verzierten hölzernen Lehnstuhl. Dieser Platz wurde nur an Gäste abgegeben. Auf einer Bank hiner ihm, ebenfalls erhöht, saßen die Männer. Die Frauen fanden auf einer niedrigen, schlich­ten Bank direkt am Herd Platz, wenn sie überhaupt Zeit hatten sich zu set­zen. Das Vieh, einziges Maß für Wohlstand, befand sich in Stallungen an den Wänden des Raumes, in ein­zelnen, mit vielerlei Schnitzerei ver­zierten Stallungen und diente so als Bioheizung. Der Kopf des Viehs reichte in den Wohnraum hinein. Dort stand auch der Futter­trog.

Der Rauch zog nicht ab sondern stand über den Köpfen der Bewohner. Der Führer erwähnte, daß man glaube, Rauch sei gut für die Augen: Selbst die alten Bewoh­ner dieser Häuser sollen so gut gesehen haben, daß sie Tagsüber die Sterne am Himmel ausmachen konnten. Salz hingegen sei schlecht für die Sehschärfe.

Jagd

Die Jagd ist in Swanetien eine der angesehensten Betätigungen und von daher mit vielen Traditionen verbunden. So soll der Jäger ein bis zwei Wochen, bevor er auf die Jagd geht, nicht mit einer Frau schlafen. Weiter soll das Haus rein sein, wenn er es verläßt; d.h., daß keine im Haus wohnende Frau ihre Regel­blutungen haben soll. Hat sie trotzdem ihre monatliche “Krankheit” (wie Dschimt­scher sich ausdrückte), sollte sie einige Tage bei den Nachbarn wohnen. Der Jäger reinigt sich selbst, bevor er auf die Jagd geht. Auf der mehrtägigen Jagd wird kaum gegessen und nur wenig geschla­fen. Bevor Beute gemacht wird, sollen die Jäger beten. Überhaupt hielt Dschim. all diese Traditionen für Beweise der starken Christlichkeit der Jäger.

Untereinander sind die Jäger angehalten, achtsam miteinander umzugehen.

Wenn sie Steinbock (?) (Dschiwuli) (Beute) sehen, pirschen sie sich nicht sofort an, sondern setzen sich erst noch zusammen, trinken reinen Korn (“Na­tachan”) und beten zu Gott auf gutes Gelingen.

Der erste Trinkspruch (vor dem ersten Bissen nach erfolgreicher Jagt gespro­chen) lautet übersetzt: Auf das der Jäger jedesmal so erfolgreich von der Jagd zurückkeh­re, wie dieses Mal.

Die Trinkspruchrunde ist nur beim Trinken auf die Toten (nach links) und beim dritten Trinkspruch auf den Heiligen Georgi (nach rechts) festgelegt. Ansonsten wird das Rederecht zuerst vom Tamada und dann dem jew. Redner weitergegeben.

Die Jäger erzählten, daß es früher den Alten vergönnt war, Er­scheinungen ihrer toten Söhne zu sehen. Einmal aber wollte ein Vater seinen Sohn nich zurück lassen in die Welt der Schatten und wagte es, ihn zu umarmen. Seitdem sehen die Väter ihre Söhne nicht mehr.

Dschimtscher geht davon aus, daß es durchaus nützlich sei, sich einmal im Jahr wie eine Schlange zu pellen (durch Sonnenbrand).

Tel. Komas (Anton): 444336

Der Gang – er ist das Archaische. Wir sind ins Menschsein hin­eingegangen, von Anfang an. Ob wir heute gehen oder vor zwei Millionen Jahren gegangen sind, ist egal. Die Rede hinhegen, sie ist Abstraktion, Gedanke, Macht.

Musik ist dem Gang näher als der Rede.

Es gibt einen Glauben, nach dem der Charakter des Menschen von der Mondphase ab­hängig ist, während der er geboren wurde.

Die Dächer der Türme (und einiger trad. Häuser) bestehen aus zweilagig liegen­den einfachen Holzplanken. Sie halten bis zu 25-30 Jahren und lassen kein Wasser durch. Jetzt stirbt dieses Handwerk aber schon aus.

Auch das Phänomen der swan. Türme weist darauf hin, daß das Selbstverständnis der Swanetier bis in jüngste Zeit von der Sippe bestimmt ist und nicht etwa von Region, Nation u.ä.. Sie dienten dazu eine Familie gegen eine andere zu be­schützen. Zur gemeinsamen Verteidigung gegen einen äußeren Feind wären sie idiotisch an­geordnet.

In Windscheri gibt es eine Kirche, in der für gutes Wetter gebetet wird. Vor nicht langer Zeit versammelten sich dort nach einer langen Trockenheit viele Menschen und beteten gemeinsam um Regen. noch während des Gebetes braute sich ein solcher Hagel­sturm zu­sammen, daß alle Ernte, die noch übrig war, vernichtet wurde. Seitdem ist man sich nicht ganz darüber eins, wie man zu dieser Kirche stehen soll.

Ziali Tschertulani – Direktorin des Ethn. Museums. Wollte von einem Professor der Humboldt Uni (Linguist, Spezialist für kauk. Sprachen) noch eine Karte zurück­haben, die der sich vor ein paar Jahren geliehen hat.

In Swanetien gibt es eher als im übrigen Georgien einen Ahnenkult anstelle eines Kinderkultes. Die Vorfahren spielen die entscheide­ne Rolle im Wertesystem der Menschen.

Schota erwähnte, daß die Alten sehr viel mehr Aufmerksamkeit benötigten, als die Kinder.

Meine beiden Kumpel (Dschimt. uns Niko/Koma) gehen auch davon aus, daß Frauen­raub durchaus anständig sei. Die Mädchen seien einfach zu schüchtern um zu ihrer Liebe zu stehen. Daher bliebe den Buben nichts übrig, als sie gewaltsam zu ihrer Liebe zu führen. So erzählte Koma, wie sein Nachbar sich seine nebecta kidnappte. Das Mädchen wurde dann von den Frauen im Hause des Kidnappers dazu überredet auf den Dachboden zu gehen. Dorthin folgte der lüsterne Knabe und vögelte sie durch. Die Schreie des Mädchens seien den ganzen Abend zu hören gewesen. Koma stieg außen am Haus hoch zum Fenster und schaute sich das Spektakel an. Als die Eltern des Mädchens endlich kamen, war das Jungfernhäutchen natürlich schon längst gerissen. Sie nahmen ihre Tochter seltsamer Weise trotzdem zurück zu sich nach Hause. Dem Mädchen blieb es also, sich entwe­der schleunigst in ihren Ficker zu verlieben, oder aber als entweihte zu vertrocknen. Sie entschied sich für ersteres und ließ sich erneut klauen.

Erstaunt fragte mich mein Jäger, was ich denn täte, wenn ich in Deutschland ein Mädchen sehr liebte, diese sich aber nicht bereit erklärte, mich zu heiraten. Er spielt wohl ernsthaft mit dem Gedanken, seine Geliebte hier, eine Nachbarin, zu rauben. Er geht davon aus, daß ihr Vater sie einfach als jüngere Schwester nicht aus dem Haus geben wolle, bevor die ältere Schachtel nicht unter der Haube sei. Von der Lehrerin weiß ich aber, daß das Mädchen selbst nicht will.

reh – eine Pflanze, die nach Aussagen meines Jägers Schlangen im Magen von Menschen zerlegen würde. Zwei Wanderer gingen in die Berge um zu arbeiten. Sie übernachteten im Freien. Einer von ihnen wachte auf und sah, wie dem anderen eine große Schlange in den Schlund kroch. Er sagte nichts, um seinen Kameraden nicht zu erschrecken, sondern vereinbarte am nächsten Morgen eine Wette, nach der derjenige gewinne, der am meisten reh esen könne. So rettete er seinen Freund.

Tannenharz wird als Kaugummi gekaut.

Nach Schota geht die Tradition, nach der alles Wissen um die Heilkunde nur von Vatermund zu Sohnenohr weitergegeben werden darf, zurück auf den Hippokratischen Eid, in dem es so festgelegt sei. Ein Gemeinschaftsgefühl scheint in Swanetien sehr eng auf die patriarchalische Familie begrenzt zu sein. Andere Familien werden schon als potentielle Feinde empfunden. Identität wird von den männ­lichen Vorfahren abgelei­tet.

So hat eine Snatok in Kriegszeiten einen komplizierten Armbruch seines Sohnes selbst operiert, weil die Ärzte den Arm amputieren wollten. Der Snatok aber fragte sich, was er denn mit einem ein­armigen Sohn anfangen solle und sägte mit primitivsten Instrumen­ten und eigener Medizin den faulen Teil des Knochens ab. Der Arm wuchs wieder zusammen und der junge Mann genas mit etwas kürzerem Arm. Das unglaubliche Wissen des Snatocks verfiel jetzt, weil sein Sohn keine männlichen Nachfahren zustande brachte.

Die Türme können nicht verkauft werden. Sie bleiben immer Familienbesitz und gehen an den Erbsohn über. Einzig die Familie Hergiani, die ca. 8 Türme ihr Eigen nennt, nahm es sich jetzt heraus, einen Turm an das einheimische Museum zu verkaufen.

Es gibt einen Fall in Ifari, wo ein junger Mann ein Mädchen so sehr liebte, daß er ihr eigens einen Turm auf einem Felsen im Fluß baute. Dieser Turm wurde zu Gemein­eigentum, weil aus der nicht erwiederten Liebe keine Nachkommen her­vorgegangen sind.

ci°chwarulic koschki / lelati mu°chwam

ja ljublju tebja: wici maläd

Medizin und Macht. Die Macht über die Gesundheit des Menschen. So als Thema.

Das Gelübde, das die Söhne ablegen ist mehr ein Bund, der geheim vor Gott geschlos­sen wird.

Batumi

Das Hotel, in dem wir in Batumi abgestiegen sind, hält einige Überraschungen in Reserve. Balkons als Kinderfallen mit Bratrohreffekt im 15’ten Stockwerk, Zimmernum­mern die ausgegeben werden nachdem der Lift zu den ersten ausgegebenen Nummern nicht funktionierte und die Ersatznummern mit Eisengitter verriegelt war, aber gar nicht existieren, Messerstechereien im Kaffee um irgendwelche russischen Huren usw..

Время течет медленно и визкозно в летной жаре. Я хочу любить человека. Целого… Не хочу я хранить ценного имущество.

Mit welch geiler Lust die Alte Tomaten frißt… . Alte Lust mit triefender Scham. Liegt verfallen wie eine Skizze Egon Schieles – seltsam, daß sie noch lebt und denkt. Die Nägel der grauen, nackten Füße schlagen anarchisch in alle Richtungen aus und das wilde Fleisch hat vielerorts den Nagel schon ganz verdrängt.  (Im Zug von Odessa nach Simferopol).

Inna auf dem Weg in die Ukraine, zur Mutter einer Freundin, die sich dort in einen Knackie verliebt hatte.  Der wohnte dort zusammen mit seinem Bruder, mit dem er nach sieben jähriger Haft entlassen worden war, dessen Frau und deren Tochter. Die Tochter sah ein Buch in Innas Händen und rief freudig aus: ” Oh, wir hatten im letzten Jahr auch ein Buch – nur etwas größer…”. Was mit dem Buch geschehen war, erklärte sich, als Inna der Frau vorschlug, eines der vielen herumliegenden Journale zu lesen: Diese bemerkte erstaunt, daß die Journale zum säubern des Hinterns verwandt würden.

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