Tbilisi, 25. November 1992: Verzagen

Das Password zu meinem Computer ist “Trau”. Eigentlich sollte es “Traun” sein, er nimmt aber leider nur vier Buchstaben an. Traun ist mein Lieblingsname, weil er mich an so schöne Dinge wie Zutrauen, Vertrauen, trau Dich! erinnert. Nichts dergleichen ist bei mir! Alle Festigkeit in mir weicht mehr und mehr der Angst, in einem Ausmaß, daß ich seit meiner Kindheit nicht mehr kenne. Das “Komische Gefühl” brennt in mir, es schnürt mir, von einer Todesahnung zur nächsten hetzend, die Brust von Innen her zu.

Ein paar Tage ging es mir gut, ich kam mit meiner Arbeit vorran und kleisterte die alten Abgründe, die sich wieder geöffnet hatten, zu, mit der Organisation eines vielversprechenden Alltags. Vor zwei Tagen dann, vertilgte ich abends Reis und auf der Straße erstandenen Käse (den ich versäumte zu waschen) und arbeitete die Nacht durch. Ich wachte dann früh morgens auf, mit einem gehörigen Fieberanfall Dieser wurde so stark, daß er mir die Sinne raubte und ich mich letzten Endes kaum noch auf die Toilette schleppen konnte, um meinem heftigen Durchfall abzulassen. Ich bekam dann doch noch em fiebersenkendes Mittel zu fassen, mit dessen Hilfe es mir bald besser ging.

Seit dem habe ich heftigen Durchfall und andauerndes Schwächegefühl. Ich kann mich auf nichts konzentrieren und bin von erstaunlichen Beklemmungen befallen. Außerdem jagt mich diese unfaßbare Todesangst, einhergehend mit ihren häßlichen Kindern: Der Rastlosigkeit, der Kraftlosigkeit, dem verzagenden Blick in die Zukunft und von Nostalgie verklärten Blick zurück.

Bei allem was ich tue, bin ich immer peinlichst darauf bedacht, mich nicht festzulegen, keine konkrete Richtung einzuschlagen, für mich infrage kommende Möglichkeiten aufzuspüren, um sie dann liegen zu lassen und neue zu suchen, kurz: die Präferenzen der Jugend nicht zu passieren, um so die Jugend selbst zu erhalten. Aber ich werde älter. Und Präferenz der Jugend ist es, wählen zu können – aber das beinhaltet die Tat der Auswahl! Man kann die Jugendliebe nur in der Jugend erleben; versagt man sie sich dann, verpaßt man damit für immer dieses Erlebnis. Im Versagen von Leben erhält man sich keine Auswahl, man kann Möglichkeiten nicht ansammeln, man verpaßt nur. Hängt man dann den Rest seiner Tage diesem verpaßten Leben nach, gehen auch die Früchte des gegenwärtigen Lebens an einem vorbei. Deshalb hasse ich meinen Hang zur Nostalgie so. Aber ich kann mich, bin ich geschwächt, dagegen kaum wehren. Die Väter meiner Angst, Todesbewußtsein und Bewußtsein meiner Einsamkeit, sind so alt, so ursprünglich in meinem Selbst verankert, daß ich sie, werde ich in meinem Alleine Sein zum unbescheidenen Zentrum der Welt, nicht mehr verdrängen kann. Die Väter der Angst prallen dann auf Hochmut und Eitelkeit und erzeugen das, was ich als Kind hilflos “Komisches Gefühl genannt habe”. Ich bin genauso hilflos wie damals, nur außen etwas zivilisierter; innen schreit es wie gehabt nach der Rückkehr in die Mutter.

Es ist schon so richtig Winter geworden. Nachts fällt Schnee, der auf den umliegenden Hügeln auch tagsüber liegenbleibt. Außerdem weht ein Sturmwind, daß man meint, das Haus bekäme Flügel. Diese Annahme wird bestärkt von der Tatsache, daß Gevatter Wind direkt in meine Wohnung bläst. Die allerorts anzutreffenden Ritzen bieten Einlaß. Ob ich die Erkältung, die ich habe, jemals wieder loswerde, weiß ich auch noch nicht. Angenehm ist hingegen der Geruch des Winters. Trete ich auf den Balkon hinaus, schmeckt die Luft so frisch, wie kaltes Quellwasser. Vor wenigen Tagen hatten wir hier noch Smog und warmes Herbstwetter. Zum Glück ist Benzin so teuer: Gab es sonst die höchste Autozahl pro Einwohner in Tbilisi, fahren jetzt nur noch wenige Pester durch die Straßen.

Eben hatte mir noch Prof. Wachtangi (Ethn.) einen gestörten Hobbieethnologen ins Haus geschickt (warscheinlich, um ihn sich selbst vom Hals zu schaffen). Er kam rein und entschuldigte sich die ersten fünf Minuten aus Gründen, die mir nicht deutlich wurden, weil wir uns ja telephonisch verabredet hatten. Danach zählte er in einem Fort, ohne Unterlaß, sämtliche Völker auf, die er kannte. Er behauptete von sich alle Völker dieser Erde zu kennen und zu studieren. Gelernt hat er Judo.

Zum Schluß schmiß ich ihn dann raus, als er mir bei dem Versuch seinen Monolog auf meine Themen zu lenken, immer noch nur weiter belesenen Unsinn erzählte. In der Tür fragte er mich noch, ob ich denn nicht wenigstens den Eindruck gewonnen hätte, daß er kein Idiot sei? …

–> next page