Tbilisi, 16. November 1992: Kultur

Was heißt das aber, einander Einsamkeit zu achten? Es ist der Glaube daran, daß die Menschen verschieden sind, daß sie ihre eigenen Wege finden müsse und daß es dieser Wege viele gibt. Es ist insofern eine Absage an Kultur als wegbereitende Grundlage für die Mehrzahl der in ihr lebenden Menschen, als daß Glaubenssätze (Dogmas) und die nicht hinterfragbaren Vorausgaben im Bewußtsein der Menschen (Tabus) auf ein Minimum geschrumpft ist; auf die nackten Vorgaben “ich bin, du bist, doch du bist nicht ich.”

Alles Anschließende unterliegt dem die Eiswüsten des menschlichen Abstraktionsvermögens eingrenzenden Satz “Anything goes”. Denn jede Weltanschauung, so sehr sie auch Ausschließlichkeit für sich beansprucht, also ebenso jede Religion, wird ja dem Bewußtsein eines einzelnen Menschen zugeordnet und auf seine Welt beschränkt.

In Georgien hat Kultur diesen Stellenwert noch nicht ganz eingebüßt und somit wird die Einsamkeit von eigener Persönlichkeit nur sehr begrenzt geduldet. Viele wissen hier tatsächlich vom Unterschied zwischen Gut und Böse und nennen das Wort „Anstand“ ohne Prätensionen.

Dies bezieht sich aber wohl vor allem auf das Ewige im kaukasischen Dorf; in der Großstadt sind diese ehedem das Selbstverständnis des Menschen ausmachenden Vorstellungen von der Welt aufgetrieben an die Oberfläche, wo sie schillernd nur noch zur Schau getragen werden, wie noch nicht zerplatzte Seifenblasen. Die Jugendlichen benutzen dieselben Gesten wie die Alten, nur sind die Empfindungen, die sie ausdrücken (nicht ausdrücken sollen!) nicht ein Zehntel der Theatralik wert, in der sie deftig aufgetragen werden. Wut, Freundschaft, Freude, Verachtung, Beleidigt sein, Stolz usw. hat in zweiter – und letzter – Lage schon die Triebkraft Selbstdarstellung. Die niedrigen Eitelkeiten des Menschen werden in die großen Gesten der wirklichen Menschen gekleidet.

Bei uns geht man im Allgemeinen bescheidener um mit dem Verlust wahrhaft leidenschaftlichen Seins.

 

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