Eriwan, Donnerstag, 23. Dezember 1999

Wir befinden uns anscheinend doch noch im Mittelspiel des Machtkampfes in Armenien. Die strategischen Positionen für das Endspiel werden austariert. Der President, der selbst keine eigene Machtbasis in Form einer Partei oder bewaffneten Gruppe hat, macht Gewinne in Karabakh (Rhukassian setzt sich gegen Babajan durch) und möglicherweise im Verhältnis zu Rußland (Serzh Sarkisians Vertrauensbonus bei seinem Spezi Putin; im vergangenen Monat reiste er drei (?) mal nach Moskau) – zwei Faktoren, der im Falle eines Putsches oder Bürgerkrieges entscheidend wäre. In Erewan hingegen hat Kocharian temporäre Verluste zu verzeichnen. Die Eckpfeiler seiner Macht im Parlament und unter den bewaffneten Verbänden – Vazgen Sarkisian (Premierminister, Vorsitzender von EKRAPA und der Republikanischen Partei, der politische Flügel EKRAPAs und Autorität für die staatlichen Gewaltdienstleister) und Demichan (Parlamentssprecher, ehemaliger Parteipoß a la Shevardnadze und Oliev, Vorsitzender sehr populären der Demokratischen Partei und politisches Schwergewicht) wurden am 27. Oktober im Parlament erschossen. Serzh S. vermutet, daß das Attentat aus dem näheren Dunstkreis Vazgen S. heraus entstanden ist. Die erste Demütigung Babajans hatte er im Juni selbst durchgeführt (Erste Hilfe Aktion). Außerdem machte er Anstalten, den Staat gegen die Netzwerke, aus denen er selbst hervorgegangen war, zu stärken. Möglicherweise war er dem Netz als Ikone willkommener denn als aktiver Politiker. Wenige Stunden nach dem Attentat legten führende Armees dem Präsidenten eine Liste mit einer erwünschten Regierungsumbildung vor, in der ihre Leute die absolute Oberhand gehabt hätten. Kocharian erreichte einen Kompromiß. Entscheidende Niederlagen waren allerdings

  1. Mit der Aufklärung des Attentates befaßt sich die Militärstaatsanwaltschaft (geleitet von einem EKRAPA Getreuen).
  2. Die Gefangenen wurden vom KGB-Gefängnis (MNB) ins MID Gefängnis verlegt; seit der Verlegung werden von verschiedener Seite Folterbeschwerden erhoben.
  3. Die beiden engsten Vertrauten des Präsidenten, Serzh S. (Minister MNB) und Harutunian (Chef des Präs. Apparates) mußten ihre Stellen Räumen – sie wurden allerdings nicht wie gefordert von EKRAPA-Leuten ersetzt: Serzh S. wurde Chef des Apparats und MNB wurde ein politisch neutraler Profi-Polizist/Jurist (laut Aloian, Chef der Außenabteilung des MNB, meinte der neue Minister Petrosian zur Thematik POW: „Was, wir haben noch welche? Die sind doch viel zu teuer; laßt sie uns umgehend freilassen.“ Darauf hingewiesen, daß er das vielleicht erst mit dem Präsidenten besprechen müßte, meinte er verwundert: „Muß ich dafür den Präsidenten fragen?“). Harutunian wurde Berater des Präsidenten für Außenpolitik.
  4. Harutunian trat am 17.12. zurück und wurde am selben Abend auf Betreiben des Militärstaatsanwaltes festgenommen. Angeblich hatte ihn Hunanian als Drahtzieher des Terroraktes genannt. Hunanian hatte allerdings vorher schon eine Reihe sehr unterschiedlicher Politiker derselben Tat bezichtigt, unter anderen einen Parteigänger Babajans, der zur Tatzeit im Ausland war. Harutunian und Hunanian waren tatsächlich Studienfreunde und Harutunian hatte sich als Unterhändler während des Geiseldramas zur Verfügung gestellt.

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