30. April 1996

Minderjahn war mit Karl-Heinz Söhngen für drei Tage und fünf Nächte da. Der Lebenskünstler Söhngen führt ein joking relationship mit old Jo. Jo benahm sich jovial und gut. Aus anthropologischer Sicht war vor allem das Abschiedsessen bei Nana und Gela interessant:

Gela deutete auf der Heimfahrt an, daß formalere Kleidung ange­sagt sei, weil er Gäste eingeladen hatte. Vor Ort stellte sich dann heraus, daß wohl Otar Japaridse und die bekloppte Deutsch­lehrerin von Gela und Nana gemeint war (obwohl noch zwei Gedecke mehr aufgetischt waren). Ich wurde Gela gegenüber am Kopfende des Tisches platziert. Gela legte ein für ihn völlig ungewöhnli­ches Toastempo vor, was nicht zuletzt den Söhngen sich in endlo­sen Liebeserklärungen mit pausenlosen Küßchen ergehen ließ. Küßchen vor allem mit Mischa Zozoria, der wie die Feuerwehr herbeigeeilt kam, angeblich um die von Minderjahn vergessenen Zigarettenstange zurückzubringen. Zum Ende des Gastmahls stellte sich aber heraus, daß der Grund seines Erscheinens woanders lag: Gela nahm mich beiseite und gestand mir, daß sich eine Katastro­phe ereignet habe. Natia hatte es doch fertig gebracht, die Keramik-Figur, die Söhngen bei Zozoria gekauft hatte, kaputt­zuschmeißen. Zozoria hatte nun schnell für Ersatz gesorgt. Gela wollte wissen, ob Söhngen überhaupt von dem Geschehenen infor­miert werden müsse. Ich befand es für Einerlei. Als Gela aber weiter irgendwelche Bedenken wegen der Größe der Figur äußerte, rief ich Söhngen einfach entgegen dem Willen Gelas, der vorher noch Mischa zurate ziehen wollte, zu uns rein. Der – mittlerweile volltrunken und ein bißchen Neidisch auf all die von Küßchen begleiteten Liebeserklärungen vom sactolje – viel vor Rührung erst Mischa, dann Gela um den Hals und kam auf seine Kosten. Der Toast auf mich wurde als letzter persönlicher Toast ausgebracht (allerdings vor den Toasts auf Nana und den Tamada Gela), ver­halten und betont allgemein (Schönheit usw.). Gela trank aller­verdi mit Joseph auf mich, der die Chance allerdings beim Schop­fe packte und seine loyale Beziehung zu mir klarstellte. Vorher schon hatte Gela mich vergriffen autoritär darauf hinzuweisen versucht, daß es mein Teil sei zu übersetzen, als ich die mir unangenehmen Liebesbekundungen Nanas an Josephs Adresse von ihrer Lehrerin übersetzen ließ. Ich gab in freundlicher Verstel­lung zurück, daß ich mich im Angesicht einer so hervorragenden Übersetzerin schämen würde. Auf die Übersetzerin, die sicherlich auch als ein Zeichen an mich eingeladen war und der Kontrolle dienen sollte, tranken Gela und Nana in sogar für Georgier über­zogenen Verzückung (zumal ich weiß, daß sie Gela eher nervt). In Gelas Toast auf Nana unterstrich er für einen Georgier bei Tisch ungewöhnlich seine primäre und absolute Loyalität und Liebe zu seiner Frau. Ich wich dem Toast aus. Beim Toast auf die Freund­schaft hob die Tugend hervor, alles Schlechte und Unangenehme von den Freunden fernzu­halten, um diese nicht zu belasten.

Joseph hatte sich vorher schon wieder beliebt gemacht, indem er sein amerikani­siertes deutsches Modell für die georgischen Bau­vorhaben vor­schlug (firmenorganisierte medizini­sche Versorgung für die Ar­beiter und deren Familie…).

Otar wurde als absolute Autorität und würdiger Kerl präsen­tiert. Gela spielte geschickt auf seine Kinder im Ausland an (sein Sohn hat Hausverbot, seitdem er in Holland, wo er als Physiker und Mathematiker arbeitet, eine Russin geheiratet hat, seine Tochter ist in Kanada verheiratet), indem er sie persönlich und den Internationalismus der Georgier lobte.

Durch die schnelle Abfolge der Toasts (und die erstaunlich gro­ßen Gläser) kam kein Tischgespräch auf. Es war eine politische Performance, die ich bisher nur in ihrem an mich adressierten Teil dekodieren kann.

Als wir am Flughafen auf Minderjahn warteten wurde Gela von einem Typen in seinem Alter begrüßt, der mir vorher dadurch aufgefallen war, daß er mit unguten jungen dswelis abhing. Gela erklärte mir, daß er selbst auch ein dsweli i°qo ist, der gerade zweieinhalb Jahre Knast unter angenehmen Bedingungen abgesessen hatte, weil er den Sohn des Chef-Prokurors erschossen hatte. Der Prokoror war einer seiner besten Freunde. Nachdem er mit dem Prokuror dessen Geburtstag ausgiebig begossen hatte, fuhren sie an einen anderen Ort weiterzutrinken. Dort war zufällig auch der Sohn des Prokurors anwesend. Es kam zum Streit mit dem Vater und der Sohn beschimpfte den Vater mit einem Mutterfluch. Angeblich wies der Freund des Vaters den Sohn daraufhin zurecht, worauf dieser nocheinmal Fluchte. Weiter angeblich zog der Freund des Vaters daraufhin eine Waffe, um den Lümmel einzuschüchtern. Ein Freund des Lümmels, der dabeistand, soll dem dsweli dann in den Arm gefallen sein, wodurch sich ein Schuß löste, der den Lümmel allerdings nur verletzte. Er starb dann durch eine Folgetrombose im Krankenhaus. Solange der Sohn lebte, war der Prokuror sehr für seinen Freund. Als dieser aber starb, kippte auch seine Psyche um. Da weder Waffe noch Lümmel-Freund aufgefunden wurden, und auch den Andeutungen Gelas zufolge, der immerhin den Rechts­anwalt organisiert hat, hat der dsweli wohl gleich geschossen.

Am Sonntag hielten Tiniko Japaridse und Sandro sehr unterschiedli­che Hochzeiten. Die von Sandro glich mehr einer Totenfeier. Gerüchte gehen.

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