26. März 1996

Gestern Abend war ich dann doch mit Gela bei Aloscha (74?), dem Vater ehemaliger Börsenkumpanen von Gela. Einer der beiden Söhne starb mit 36 (?) an Drogen – Medizin, wie Gela sich ausdrückte. Der andere liegt jetzt in Moskau mit Krebs im Krankenhaus. Seine Frau begleitet ihn. So lebt Aloscha, der von sich behauptet in seinem Leben einzig seine Frau betrogen zu haben, alleine in einer dunklen, kalten Wohnung mit hochherrschaftlichen Möbeln deutscher Produktion, die er seit 60 Jahren bewohnt.

Gela machte mich mit ihm als einem tbilissier Buquet bekannt: Soldat im Zweiten Weltkrieg, von 1946-53 für jemand anderen gesessen, kai bic°i, Arzt in einer Stadt, in der Russen in Minen arbeiteten, Mengrelen die Aufsicht führten und Abchasen in den Tag lebten.

Es war schwierig, von ihm konkrete Informationen zu meinem Thema zu bekommen, da er es offensichtlich nicht gewohnt war, über die Dinge zu reden, die ihm vollkommen selbstverständlich waren. Erst im Kontrast zu dem, was er als Perversionen der jungen Generation erlebt, wurden seine Begriffe von Ehre, dsveli bic°ebi, Dieben, Familie… transparent:

            – für seine und auch für Gelas Generation waren die Diebe keine Leitfiguren für die Straßenjungs. Recht wurde unter­einander abgemacht und Gerechtigkeit verwalteten interne, vor allem ältere Autoritäten. Ließ sich einer auf die Ser­vice von Dieben ein, verlor er an Ansehen. Man versuchte ganz bewußt diese Abhängigkeiten zu vermeiden. Der Bruch mit der Familie war kein Kriterium, da diese oftmals die “Schule der Straße” für sinnvoll und sogar notwendig hielt.

            – Gewalt war ein wesentliches Mittel des Prestige-Erwerbs. Aloscha unterstrich immer wieder, wie “schön” ihre Leitham­mel sich schlugen. Zweikämpfe zwischen Leithammeln ver­schiedener Schaika’s waren angesagt. Meist schlug man sich wegen Mädchen. Waffen waren gewöhnlich nicht in Gebrauch.

            – Diebe ehrt Aloscha für ihre persönlichen Eigenschaften, nicht dafür, daß sie Diebe sind. Das ist deren Sache, so­lange sie anständige Diebe sind (sich also an die Opferaus­wahl der gesetzmäsigen Diebe halten). Ansonsten ehrt Alo­scha Shamil und Sadam Hussein (dessen Name ihm zunächst nicht einviel), dafür daß sie Männer sind.

            – Anständige Straßenjungs vermutet Aloscha vor allem noch in der Provinz.

            – Gela denkt, daß Ende der 70er Jahre die Diebe zu Orien­tierungspunkten wurden.

            – Drogen spielten bei den alten d.b. keine Rolle.

            – ein d.b. ist jemand, der gern auf der Straße ist und sich gern prügelt.

            – die Pornos des Westens haben die Jugend kaputt gemacht (was die schlechte Auswahl von Filmen aus dem Westen an­geht, stimmt Gela hier zu).

            – Diebstahl war nur bei den Megrelen wesentlich fürs Er­wachsenwerden (ohne gestolenes Pferd keine Frau).

            – Aloscha will mich mit seinem guten Kumpel, dem Dieb, bekannt machen. Auch einer seines Alters.

            – er hatte extra eine Flasche Wodka (sogenannten – Gott weiß was für ein technischer Alkohol in der Flasche war)

Warum redet die junge Generation so viel über die Werte der alten? Gestikuliert sie nur, spielt sie in dem versuch sich selbst von letzten Werten zu überzeugen das nach, was die Alten in ihrer Jugend selbstverständlich handelten – selbstverständ­lich auch weil es weitgehend übereinstimmte mit den Werten der sozialen Umgebung?

Ansonsten habe ich gestern noch erfahren, daß Gela in Banken und Aktien von Polen bis Georgien 140.000$ und 1 1/2 kg Gold 998er verloren hat.

Schule der Straße als Übergangsraum der Rité de Passage des Erwachsenwerdens: Warum steht die ältere Generation so hilflos vor der jüngeren, die im grunde die gleichen Werte vertritt, allerdings mit Drogen und Waffen in der Hand?

Gewalt machte auch damals den kontrollierten Karnevall aus, in dem die Kinder zu den Erwachsenen wurden, die die Erwachsenen­welt hinter dem Ritual erwartete. Jetzt ist der Karnevall aber nicht mehr kontrolliert, er hat eine Eigendynamik entwickelt, ist selbst mächtig geworden – für eine Zeit mächtiger, als die Erwachsenenwelt. Und es gibt die klare Räuberalternative als Orientierungspunkte zur Familienwelt. Wer früher die Kultur der Brücke nicht passierte, blieb infantil (Nanas Bruder, Gias Bru­der, Dato) nach den Maßstäben der Erwachsenenwelt.

Sandro – wohl kein Straßenjunge und vielleicht zugehörig zu einer der beiden Kategorien der geachteten Ausnahmen: Sportler und Wissenschaftler (vgl. Dato) – erzählte, wie sie mit Mitschü­lern verfuhren, die zu Schlampen (Verrätern, Petzen) geworden waren: sie ließen sie jede Pause im Kreis laufen und traten ihnen in den Hintern und schlugen sie (als selbstverständlich im Nebensatz erwähnt) ins Gesicht. Jetzt täten sie ihm auch leid. Ziemlich australisch-boy-school like.

Heute an der Uni einen alternden Raufbold kennengelernt, der mir über die Kultur der Straße seiner Zeit erzählen möchte. Er ist ein alter Bully und Angeber, der wohl mit der Politik der Straße wenig am Hut hatte (er mag die d.b. nicht), sondern sich mit seinem “tötlichen Schlag” vor allem prügeln wollte. Er platzt vor Jungengeschichten von ehrenhaften Fauskämpfen, in denen sich nach durchgeschlagenen Stunden Messer als Souvenir geschenkt wurden.

Interessant waren zwei Dinge:

            1. wollte er sofort wissen, ob ich mich für das Thema aus der Sicht eines Europäers auf Asiaten interessiere, und

            2. erzählte er (von Gela bestätigt), daß die d.b. aus einer Handwerksinnung (c^°arac^oreli) noch vor der Revolution hervorgegangen sei. Eben diese fröhlichen Gesellen waren die Schule der d.b.. Tagsüber arbeiten, abends einen drauf­machen (k’ep’i). Er erzählte, wie zu Menschewikizeiten auf dem Rustaveli dedas bic°ebi, die sich für d.b. hielten, von boxenden Schotten verprügelt wurden, weil sie denen unter den Rock faßten. Daraufhin hätten sich die an die c^°arac^oreli gewendet und diese wiederum hätten dann die boxenden Schotten mit Kopfstößen fertiggemacht. Das rum­treiberische Lebensgefühl von diesen Handwerkern sei dem der d.b. ähnlich.

Auf der panichida von Nanas verstorbenen waren vor allem dessen Freunde, gemäßigte bis radikale Sviadisten anwesend. Alle stamm­ten sie aus der mittelmäßigen Intelligenzia, waren wie Nanas Bruder nie Straßenkinder, sprachen in von Gela nur in Worten der Männlichkeit (was^kazoeba, didi kazi a…) und von Zauri (?) als ihrem Leithammel (c^°oc^i).

Für die Sviadisten trifft diese Charakterisierung wohl allgemein zu. Junge Sviadisten gibt es in Tbilissi kaum (im lokalpatrioti­schen Samengrelo mag das anders sein). Ein mystisches und sicher ethnisch gesäubert vorgestelltes Georgien wird von außen (huma­nitäre Hilfsmafia, das kulturlose Amerika, KGB, Shewardnadse…) künstlich im Schlamm gehalten. Der kleinste und radikalste von ihnen, hatte sein Gesicht samt Oberlippenbärtchen gut auf Nazio­nalsozialismus eingestellt.

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