1. Mai 1996

– Tito erzählte mir, daß sie in seiner Klasse (er ist 10 Jahre alt) die dswelis hassen. Diese sind älter, rauchen und stechen sich gegenseitig mit Messern ab. Es sind ihrer viele. In seiner Klasse wird am meisten ein Mädchen geachtet, weil sie gut lernt und kultiviert ist. Tito hat sich einmal mit dem Klassenstärk­sten geschlagen, weil dieser ihm schlechte Worte gesagt hatte. Er war schlechter Junge, Tito ein guter Junge.

– Die Geschichte vor vier Jahren, als meine Wohnung ausgeraubt wurde, nachdem ich auf freir-Eigenschaften geprüft worden war und Knias mir dann die Hälfte-Hälfte Vergeltung anbgeboten hat­te, war mein erstes Zusammentreffen mit den neuen Gegensatzpaa­ren Diebe-Räuber/Soldadeska.

– Wie werden die Übergänge von Straßenkultur zu den verschiede­nen Erwachsenenwelten (Arbeitsalltag, Universität, Familie, Diebeswelt, Staatsdienst) markiert? Welche Trennungsrituale gibt es?

– Für die Jungs, die nach Abchasien in den Krieg gingen, gab es vier mögliche Motivationen:

            1. Wehrpflicht für die Blöden

            2. Bereicherung durch Raub

            3. Patriotismus/Nationalismus (die Sviadisten vielen al­lerdings aus!)

            4. Vor allem: Solidarität zu Freunden, die gegangen sind (und eventuell gefallen sind)

Von Nino alleine sind in den letzten vier Jahren um die 20 junge Männer gewalttätig ums Leben gekommen.

– Der Milizionär heute im Ethnographischen Freilichtmuseum er­zählte überzeugend rührend seine existentiellen Sorgen: Er be­zieht 56 Lari Gehalt im Monat, wovon er eine schwangere Frau und ein Kleinkind unterhalten muß. Die Geburt im Krankenhaus kostet 250 Lari + 100 Lari für Anästhesisten (bei Kaiserschnitt) + Medizin +++. An einen guten Arzt kommt man nur über Bekannt­schaft ran. Er selbst wurde vor sieben Jahren Milizionär, been­dete vor einem Jahr sein Studium als Jurist. Um seiner Ausbil­dung angemessen aufzusteigen müßte er allerdings 1500$ Beste­chungsgeld an die Beamten des Innenministeriums (Kader) zahlen. Das wurde ihm ganz klar über dritte mitgeteilt. Korrupt werden will er nicht – es wäre bei seinem Dienstgrad wohl auch kaum einträglich. Rauben will er auch nicht, da er Familie hat, seine Frau liebt und deshalb nicht ins Gefängnis will. Außerdem sucht er nach Nebenjobs als Packer oder Bauarbeiter. Auf dem Basar habe er sich auch schon 4 Tage versucht und 24 Lari Gewinn ge­macht. Er mußte aber feststellen, daß er kein Talent dafür hat­te. Wenn er nicht etwas Land in Kachetien besäße, würde er ganz katastrophal dastehen. Vor wenigen Tagen hatte er nicht einmal Geld für Brot und mußte einen Freund anpumpen. Kleidung habe er schon seit Jahren nicht mehr gekauft (sein aufgetragenes Hemd mit viel zu kleinem Kragen schienen das zu bestätigen). Der zuständige Minister soll kürzlich gesagt haben, daß ein armer Milizionär schlimmer als ein hungriger Wolf sei.

Rührend wie er, die Kalaschnikow umgehängt, mit Nastia spielte und für sie Blumen pflückte.

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