1. April 1996

Aus Udapno zurück in Tbilissi.

Nana erzählte, wie sie vor drei Tagen im Marschrutka die Gesetze der Diebe nicht eingehalten hat. Sie begann mit der Frage, ob ich mich einmischen würde, wenn ich einen Taschendieb beobachten würde. Der Fall, den sie erzählte war typisch: Eine junge Frau stellt fest, daß ihr beim Einsteigen das Portmoney aus der Ta­sche gezogen wurde. Sie bat den Dieb zunächst, ihr Portmoney “aufzuheben”. Der Dieb, ein junger Megrele, stellt sich unwis­send. Danach bittet die Frau, ihr das P. zurückzugeben und macht auf die mitleidige Tour. Der Dieb redet leise auf sie ein. Sie fängt an zu heulen. Niemand in dem übervollen Bus mischt sich ein. Dann tritt Nana auf den Plan und fordert den Dieb auf, das Geld zurückzugeben, da er nun schon mal ertappt wurde. Jetzt wird der Dieb laut und beginnt zu schimpfen und zu drohen. An der nächsten Station steigt der Dieb aus und Nana gibt ihm eins mit den Regenschirm über den Schädel. Die Leute im Bus (vor allem Frauen) regen sich über Nana auf: “Wer hat schon einmal gehört, daß man sich einmischt, wenn ein Dieb klaut”. Die Opfer solidarisieren sich mit dem Täter.

Dschimtscher hingegen zwang einmal in Kutaisi drei Taschendiebe, einer alten Frau unbemerkt das Geld in die Tasche zurückzustecken (er hielt ihm einfach die Hand fest). D. versprach aller­dings leise, daß er den Betrag an der nächsten Haltestelle den Dieben geben würde. Dort gab es dann allerdings kein Geld für die Diebe, sondern Hiebe (nachdem sie D. bedroht hatten, als dieser sich nicht bereiterklärte, das Geld rauszurücken).

Norma­lerweise sollten Betrüger und Taschendiebe, wenn sie vom Opfer (!) ertappt werden, die Sachen zurückgeben (wie bei mir/­Inna in Petersburg und Odessa).

Gespräch mit Sandro:

Diebe haben arm zu sein, in den Tag hineinzuleben und keine Familie zu haben. Letztere Regel führte immer wieder zu Konflik­ten zwischen der russischen Diebesklasse und ihren georgischen Partnern.

Sandro selbst wandte sich nur für Probleme von Freunden an Diebe als Richter. Er rät davon aber ab, besonders wenn die Interpre­tierbarkeit eines Vorfalls sehr hoch ist und es damit wahr­scheinlich wird, daß auf beiden Seiten Diebe auftauchen, die dann den Streit unter sich ausmache. In diesem Fall treten die Interessen der ursprünglichen Streitparteien gewöhnlich in den Hintergrund und es geht um Macht, Prestige und Finanzen der Diebe. Beim razborka sind die Diebe vor allem Meister der Sprache; sie drehen die Wörter so herum, daß letztlich der Gesprächspartner selber das ausspricht, was der Dieb für richtig hält. Körperli­che Gewalt bleibt in diesen Fällen fast immer latent. Sandro erzählte einen Fall, indem ein Freund Bilder und Gabbelen mit nach Spanien nahm, um sie dort zu verkaufen. Da sie sich nicht schnell verkaufen ließen, übergab er sie einer dort ansässigen Georgierin. Diese verkaufte die Bilder, rückte mit dem Geld aber nicht rüber. Die Künstler machten Druck auf Sandros Freund. Ein eingeschalteter Dieb knöpfte sich zuerst die Frau vor, als sie zu Besuch in Tbilissi war, danach die Künstler, die Prozente verlangten.

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