Petersburg, 05.02.1992: Straßenbeobachtungen; Unmut; Sashas Deutschlandpläne

“Wisse, daß unter den Leidenden der Zyniker der ärmste ist: Er ist so allein mit sich und seiner Macht, andere zu beschmutzten.”

Besonderheiten der (Petersburger) Gegenwartskulur:

– Flohmarkt auf dem Ploschad Mira: Hunderte von ‘Händlern’ aller Art stehen dort täglich vor der Metro und bieten jeden nur erdenkbaren Trödel feil. Angefangen von Dingen des Alltags wie Utensilien zur Körperpflege, über technisches Gerät bis zu Divisenschwarzmarkt. All dies wird meist am Körper getragen, Stände sind eher die Ausnahme. Die Leute stehen also Seite an Seite in mehreren, an die hundert Meter langen Reihen (tatsächlich so, daß kaum noch ein Durchkommen ist für Leute, die nicht mit dem zähen Strom der potentiellen Käufer durch diese von den Verkäufern geschaffenen Spaliere geschleust werden wollen) und haben ihre Waren in der Hand. Einige – allen voran natürlich die Wechsler – tragen Schilder, auf denen ihr Interesse zu lesen steht.

Anfangs machte mich diese Kleinsthändlermasse wahnsinnig – ich muß sie jedesmal passieren, wenn ich zu meinen Unterrichtsstunden gehe. Jetzt habe ich mich aber daran gewöhnt und schlendere gelegentlich auch zum Schnäppchenkauf herum.

[In den letzten zwei Tagen bekam ich einen kleinen Haßanfall auf mein Gastland, weil die Organisation alltäglicher Dinge wie Briefsendungen aufgeben oder Telephonate ausführen, mitunter übermäßig viel Zeit und Energie in Anspruch nimmt. Außerdem muß man dauernd die sich mitunter von einem Tag auf den anderen verdreifachenden Preise bedenken und entsprechend Geld mitnehmen bzw. umtauschen. So versuche ich jetzt schon seit fünf Tagen einen wichtigen Brief abzusenden, werde ihn jetzt nach all diesen freaks mit Sascha nach Europa mitgeben, der in zwei Wochen aufbrechen will zu einem erneuten versuch des Bücherkleinhandels in die Schweiz. Er hat sich erneut 100DM von mir ‘geliehen’ und schuldet mir nun schon ca. 350DM. Er ist ähnlich wie Jeff in seiner Manier des Nehmens: Erbricht Jeff sich in Charm so Sascha in unterwürfigen Höflichkeitsdarbietungen. Beide nehmen aber ohne tatsächliche Berücksichtigung der sprachlich so sehr Beachteten Umstände des Gebenden alles, was sie kriegen können. Ich habe nichts gegen selbstbewußtes Nehmen – nur sehr viel gegen die Illusion von Stolz im exerzieren von Floskeln.

Abgesehen davon habe ich A. gestern Abend klar gemacht, daß seine Vorstellung von Arbeit in Berlin, selbst wenn er mit einer Einladung von MKF eine offiziell Erlaubnis bekommt, a) mir nicht gefällt und b) angesichts der Wohnungsnot und dem Nichtvorhandensein von Sprachkenntnissen auf seiner Seite, sich kaum realisieren ließe. Gefallen tut es mir vor allem nicht, weil ich den Arbeitstourismus von allen Reisegeschwüren der letzten 40 Jahren als am wenigsten befriedigend für Gast(arbeiter) und Gastgeber(kultur) finde. Selbstredend gemessen an meinen Vorstellungen von  richtigem Reisen. Und Rußland ist nicht ausgebeutete dritte Welt, die an die Türen der Ausbeuter klopft, to demand their due share, sonder selbst imperialistische Großmacht. Und Sascha weiß, daß er nur hier leben will und kann.]

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