Petersburg, 21.06.1992: Schuld und Liebe

Tanja schrieb mir, daß sie den Menschen immer dankbar sei, die sie einmal liebte – weil lieben eine schöne Sache sei. Ich bin den Menschen dankbar, die mir immer wieder bestätigen, daß diese Welt groß ist und bei eingehender Betrachtung schöner als auf den ersten Blick. So gestern Alina. Sie ist unter den Kindern der Perestroika, die ich hier kenne, wohl dasjenige, das den intimsten Kontakt mit dem Fallen aller Beständigkeit in der Sowjetunion hatte, eben diese Erfahrungen aber sehr bewußt verarbeitet und für sich jetzt nutzbar gemacht hat. Sie ist aus einer Komsomolzen-Familie hervorgegangen, hat mit fünfzehn geliebt, mit sechzehn durch Nostalgie und Sehnsucht nach ihrem Idol die Macht der Frau in körperlicher Enthaltsamkeit kennengelernt (“um so weniger du mit einem Mann schläfst, um so mehr liegt er dir hier zu Füßen”), fing mit siebzehn an Männer und Drogen (das gute alte SAMAGON-Heroin) zu nehmen, das Eine wie das Andere in Treppenaufgängen, Kakalakenparadiesen, die für fünf Rubel an bedürftige von Kupplerinnen vermietet wurden. Angetrieben von der Macht über den Körper des Mannes bumste sie sich so durch 200 Männer, und hörte danach auf, Buch zu führen, drei Vergewaltigungen, diverse Frisuren, Polizeiwachen usw .. Riß sich dann, mit etwas Beistand von Andruscha (der das alles als Kind der Breschnew-Ära als Pionier schon hinter sich hatte) zusammen, und versucht sich jetzt eine materielle Basis für ein würdevolles Leben zu schaffen. Durchschaut Männer verständlicher Weise erstaunlich gut. Weiß von Andruschas Schwächen (NACHALCTWO) mehr als er ahnt. Ist wesentlich erdiger als Andruscha. Und fürchtet weder Tod noch Teufel.

Alina meinte, daß Lisa eine Königin sein könnte, wenn ihr bloß mal eine starke Männerhand einen anderen Weg zeigte. Ich denke, daß sie diesen anderen Weg selbst besser kennt, als jeder Mann. Nur ist es ihr nicht möglich ihn entlangzugehen, in dieser Welt, die Männer geschaffen haben im Angesicht ihrer Furcht vor der Bestie. Nützlich ist die starke Männerhand nur, um vor den Gefahren zu schützen, die sie selbst geschaffen hat. Wieder PUSTINIE TATARA: Männer erschaffen im Angesicht eines eingebildeten Feindes eine Welt, in der sie selbst untergehen.

Unsere Schuld ist – gibt es einen erschaffen habenden Gott – unermeßlich.

–> next page